NF-Rezension Rezension: Karen Angne (Projektmanagement): Das Polaroid Projekt

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Virgil Kane

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Die Verantwortlichen:
Zahlreiche Köpfe und Hände zeichnen für die Entstehung dieses Buches verantwortlich. Das Buch entstand begleitend zur internationalen Wanderausstellung „The Polaroid Project: At the Intersection of Art and Technology“. Ein Titel, der dem Projekt und allen begleitenden Medien um Längen besser gerecht wird als der in gleichem Maße bemüht und sinnfrei klingende deutsche Untertitel „Die Er-oberung durch die Kunst“. Dessen ungeachtet konnte eine offensichtlich hochkarätige und enga-gierte Gruppe von Ausstellungs- und Verlagsverantwortlichen für das Projekt gewonnen werden. Das Buch ist schlicht und ergreifend herausragend. Sollte es Konzeption und Inhalte der Ausstel-lung auch nur einigermaßen adäquat widerspiegeln - wovon ausgegangen werden kann-, so kann nur jedem, der Gelegenheit dazu hat, dringend empfohlen werden, sich die Ausstellung anzusehen.


Das Buch:
"Das Polaroid Projekt“ kommt im großen Format daher. Etwas niedriger und dafür breiter als A4-Format und rund drei Zentimeter stark, liegt das im Hardcover gebundene Buch im Schutzum-schlag schwer und präsent auf dem Coffee table. Den Umschlag zieren großformatige Polaroid-Fotos von Brigid Berlin und Ellen Carey, Künstler, die auch im Buch (und in der Ausstellung) ihren Platz bekommen. Farbige Elemente im typischen Polaroid-Regenbogen-Stil ergänzen die Fotos und transportieren den Betrachter schon beim Griff nach dem Buch in eine andere Zeit.

Gedruckt auf 157g matt gestrichenem Papier, finden die einzelnen Motive und Texte viel Raum, um ihre Wirkung zu entfalten. Zwei ausführliche Kapitel zur Kameratechnik sind durch einen hellgrauen Font von den Bildseiten abgesetzt. Die Fotos sind brilliant und scharf abgedruckt. Zumeist werden die kompletten Polaroids mit ihren charakteristischen Rahmen abgebildet und wirken so echt als hätte man ein Album vor sich, aus dem man sie jederzeit entnehmen könnte. Einzig bei den wenigen Fotostrecken, die über den Mittelfalz laufen, muss man mit dem typischen Verschwinden von Bild-teilen in der Bindung der Seiten leben.

Anmerkungen, Werkverzeichnis, Kommentare einzelner Künstler zu ihren Bildern sowie ein aus-führliches Quellenverzeichnis jedes einzelnen Bildes runden das Buch am Ende ab.


Der Inhalt:
Das Buch gliedert sich in folgende Text (T)- und Bild (B)-Kapitel:

1. (T) Vorwort
2. (T) Einleitung
3. (B) Werke, Objekte, Essays
4. (TB) Eine Welt im Spiel
5. (T) Persönliche Erinnerungen an die Geschichte der Polaroid Collection
6. (TB) Polaroid: Geschichte einer Technik I
7. (TB) Kapsel und Rolle: Die technische Kunstfertigkeit eines neuen Mediums
8. (TB) Polaroid jenseits der Mauern (Polaroid in der DDR)
9. (TB) Polaroid: Geschichte einer Technik II
10. (TB) Das Jahr Null der Fotografie: Am Kreuzungspunkt von Kunst und Technik
11. (T) Die Langlebigkeit von Polaroid
12. (TB) Geknipst, gemocht, geteilt: Polaroidfotos als analoges soziales Netzwerk
13. (TB) Bevor es Instagram gab, gab es Warhol: Zu Selbstinszenierungen im Sofortbild
14. (TB) SX-70: Polaroid mit den Augen von Charles und Ray Eames


„Das Polaroid Projekt“ hat alles an Bord, was für eine kompletten Zeitreise erforderlich ist:
• Bildmaterial quer durch die Epochen
• Hintergrundinformationen zur Entstehung der Sofortbildfotografie
• Technik-Infos zu Kameratypen und technischen Details
• Basiswissen, Zitate und Anekdoten zu Polaroid-Gründer und Erfinder Edwin Land
• Einen Zeitstrahl der wichtigsten Ereignisse rund um die Firma Polaroid

Das Projekt macht sich dabei den Umstand zu Nutze, das Edwin Land bei der Vermarktung seiner Erfindung aktiv auf die damals führenden Künstler zuging und ihr Expertenwissen für sich einzuset-zen verstand. Ansel Adams, Robert Mapplethorpe oder Gottfried Helnwein waren Polaroid-Fans der ersten Stunde. David Hockney nutzte das neue Medium für seine Arbeit und Andy Warhol legte die Polaroid Big Shot von 1971 kaum mehr aus der Hand, um damit Close-Ups zu fotografieren und seinen Bewunderern in der Factory ihre Fifteen Minutes Fame zu gewähren. Zahlreiche weitere Künstler kamen über die Jahre hinzu und bis heute hat das Medium Sofortbild seinen Platz im Kunstbetrieb. Dabei wird sowohl die Eigenschaft der unmittelbaren Verfügbarkeit der Fotografien genutzt als auch die Möglichkeiten, in den Entstehungsprozess einzugreifen und zum Beispiel durch Veränderungen im Ablauf oder durch mutwilliges Außerkraftsetzen der Kameramechanik besondere Effekte zu erzielen.

Wer sich die Bilder im Buch ansieht, wird schnell feststellen, dass Polaroid nicht gleich Polaroid ist. Die Bandbreite ist groß. Vom hoch auflösenden 20x24 Inch-Großformat bis zur heute wiederent-deckten 1,5x1 Inch-Spaßknipse reicht das Spektrum. Bei jeder zweiten Aufnahme ertappt man sich dabei, über ihre Entstehung nachzudenken. Hierbei sind Werkverzeichnis und Künstlerkommentare im Anhang mitunter eine große Hilfe. Dort wird dann beispielsweise erklärt, dass die Nahaufnahme des Mondes, die man beim besten Willen nicht mit einer Sofortbildkamera in Verbindung bringen konnte, tatsächlich auch kein Sofortbild ist. Das abgebildete Foto ist das Sofortbild eines analogen Mondfotos, das der Künstler im Licht des Vollmondes abgelichtet hat. Es sind tatsächlich einige ab-gedrehte Abbildungen im Buch zu finden, die in ihrer Gesamtheit wiederum alle denkbaren Sparten der Fotografie abdecken. Landschaft, Menschen, Akt, Objekte, Street, Makro…. alles ist vertreten und macht durch die scheinbar unstrukturierte Anordnung das Blättern und Stöbern im Buch zu einem Genuss.

Der Technik-Teil ist im Grunde ein Buch für sich. Edwin Lands Erfindung, das Herantasten an im-mer perfektere Apparate, die Revolution, die hinter allem steckt, der große Erfolg der Firma Polaroid und schließlich ihr Niedergang mit Aufkommen der digitalen Medien sind spannend, informativ und durch die zahlreichen Bilder unterhaltsam zu lesen. Besonderen Charme hat die Entstehungsge-schichte der Sofortbildtechnik (von Edwin Land stets als One-Step-Photography bezeichnet). Es wird erzählt, dass Lands kleine Tochter ihn ungeduldig danach fragte, warum das gemachte Foto nicht gleich zu sehen war. Diese Frage setzte einen Denkprozess bei Land in Gang, der drei Jahre später in der ersten Polaroid-Kamera gipfelte. Schon seltsam, dass in heutiger Zeit wohl kein Kind mehr diese Frage stellen würde. Fotos sind inzwischen standardmäßig sofort verfügbar, wenn auch auf völlig andere Art und Weise als damals.

Interessant ist auch das Kapitel zum Sofortbild als erstem analogen Social Media Content. Man konnte plötzlich Bilder sofort gemeinsam betrachten, weitergeben, mit anderen teilen - ein offenbar schon immer vorhandenes Bedürfnis der Menschen.


Für wen ist dieses Buch geeignet?
Zunächst einmal für jeden, der sich mit Fotografie beschäftigt und etwas über Sofortbild lernen möchte. Dann natürlich für Liebhaber von Fotokunst. Außerdem für Technik-Freaks, die Gefallen an fotografischen Steam-Punk-Maschinen haben. Für Fans außergewöhnlicher Biografien. Für ak-tive Fotografen - gleichgültig ob zum Vergnügen oder professionell -, die sich Anregungen für Moti-ve und visuelle Techniken holen möchten. Schließlich für Freunde sehr gut gemachter Coffee table Bücher, die Qualität zu schätzen wissen.


Fazit
Ein wunderbares Schmökerbuch, ein hochinteressanter Einblick in eine spezielle Kunstszene, ein Technik-Atlas für Polaroid-Kameras - kurz: wer sich „Das Polaroid Projekt“ zulegt sollte sich nicht darüber wundern, wenn er während der Lektüre ein unbestimmtes Verlangen nach dem Erwerb einer Sofortbildkamera entwickelt. Das Buch ist eine klare Empfehlung, mit allen Risiken und Nebenwirkungen. 5 Sterne

Die Daten
Das Polaroid-Projekt erschien am 1. Juni 2017 im Hirmer Verlag. Mit Beiträgen von W. A. Ewing, B. P. Hitchcock, D. G. Douglas, G. Van Zante, R. Reuter, Ch. Bonanos, T. Brandow, P. Buse, D. Jelonnek, J. Rohrbach. 288 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe, 23 x 27,5 cm, Leinen, Schutzumschlag
ISBN: 978-3-7774-2873-4
Preis: 49,90 € [D] | 51,30 € [A] | 60,90 SFR [CH]

Bewertung:
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ISBN: 3777428736

 
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