Zum Thema Bildmanipulation
MartinF schrieb:
„Interessante Diskussion dort, die ich gern hier aufgreifen und fortführen möchte: wieviel Veränderungen vertragen Fotos? Muss es immer 100% authentisch sein? Darf man manipulieren? Es drehte sich um die Idee, das Kabel im Bild zu entfernen.“
Im direkten Zusammenhang mit meinem Bild habe ich in einer Anmerkung zu einem Kommentar ausgedrückt, dass es mir nie in den Sinn käme, wesentliche Bildelemente zu entfernen oder sie an anderer Stelle einzubauen. Es handelt sich bei der besagten Aufnahme um ein Reisedokument, das ich inhaltlich schon deshalb nicht verändern möchte, weil es mir solche Aufnahmen ermöglichen, auch nach langer Zeit Dinge zu entdecken, die bei der Aufnahme nicht im Fokus meiner Interessen standen und ich sie deshalb gar nicht wahrgenommen habe. Derzeit beschäftige ich mich ein wenig mit „historischen“ Fotos und dazu gehören (völlig nebensächliche) Bilder, die ich vor einigen Jahren aufgenommen habe und die nun auf dem Leuchtpult gaaaanz anders auf mich wirken, als damals. Ich meine nicht eine qualitative Verschlechterung durch Verfärbung, sondern die simple Tatsache, dass sich innerhalb weniger Jahre unsere Umwelt (Warenästhetik, Mode, Landschaftsbild usw.) völlig verändert haben. Erst heute, da ich den Vergleich habe, wird mir der Wandel bewusst.
Sowohl unsere Augen wie auch das Kameraobjektiv liefern Projektionen unserer Umwelt. Diese erreichen in der Kamera einen ebenen Film oder Chip, im Auge aber eine gekrümmte Netzhaut. Schon die Projektionen sind deshalb von der Art her unterschiedlicher Natur. Auge und Gehirn sind im Verlaufe der Evolution zu einem System herangereift, das es den Menschen ermöglichte, sich in den unwirtlichsten Gegenden einzurichten um dort zu überleben. Das Auge liefert keine „Bilder“ ins Gehirn, sondern bestenfalls vage Andeutungen eines Bildes. Die Abbildungsqualität der Augenlinse dürfte die eines Flaschenbodens sein, die Rezeptoren auf der Netzhaut sind unterschiedlicher Natur und darüber hinaus noch ungleich verteilt.
Dies alles wird aber durch eine exzellente Bildverarbeitung so optimiert, dass der Sehsinn zum wichtigsten Fernsinn unserer Spezies wurde. Als solcher erlaubte er unseren Altvorderen, potentielle Nahrungsquellen zu entdecken, gefährliche Nachbarn aus dem Bereich der Fauna zu bemerken und gewisse Qualitäten möglicher Sexualpartner ausfindig zu machen. Unser Wahrnehmungssystem kann Kontraste bewältigen, bei denen jeder Film schlappmacht. Es kann aber bedeutend mehr: es ist in der Lage, eine Vorstellung vom dreidimensionalen Raum zu liefern und zwar in einer Prägnanz, die so stark ist, dass wir (ungeschädigte) durch Bilder von „optische Täuschungen“ erheblich verunsichert werden. Nicht zuletzt wird unsere visuelle Wahrnehmung von unseren Vorerfahrungen erheblich beeinflusst. Obgleich der Blumentopf auf unserer Fensterbank für uns „AusdemFenstergucker“ die vielfache Fläche in der Projektion auf der Netzhaut belegt als das 100 m weiter entfernt stehende Auto, kämen wir nie auf die Idee, zu behaupten, das Auto könnte locker ein paar mal Platz im Blumentopf finden. Erst wenn wir unseren fußläufig zu erobernden Erfahrungsbereich verlassen, werden uns die Differenzen in der Abbildungsgröße bewusst: Wer hat noch nicht beim Blick von einem Turm oder Berg festgestellt, das da unten sehe aus wie auf der Platte der Modelleisenbahn? Auch die Bedürfnislage spielt eine Rolle: wenn der Magen knurrt fällt mir die Frittenbude oder das 3-Sterne-Restaurant schneller ins Blickfeld...
Wenn man es recht betrachtet, ist ein simples Foto von 10 x15 cm selbst für ein Lebewesen, das mit einem vorzüglichen visuellen System ausgestattet ist, beispielsweise einem Falken oder einer Katze ein höchst armseliges Objekt, das nicht im Geringsten mit einem kullernden Wollknäuel konkurrieren kann. Interessanter ist es für unsere körperbehaarten Artverwandten und vor allem für uns und unserer Zeitgenossen, deren visuelle Wahrnehmung durch den Konsum der medial vermittelten Wirklichkeit eine Vor-Bildung erfahren hat.
Vom Thema abgeschweift? Ich meine keineswegs:
Warum ist ein Bild für uns interessant? Zumeist riecht es nicht sonderlich gut, es gibt keinen Laut , es bewegt sich nicht, ist zumeist so klein, dass man es ohne Brille nicht ganz deutlich sieht ...?
Da sich das Bild nicht bewegt, muss es von unserem Wahrnehmungssystem bemerkt werden. Es muss sich zunächst von seiner Nachbarschaft so visuell unterscheiden, dass es uns „reizt“ unseren Blick darauf zu lenken, denn wir können es erst dann erkennen, wenn seine Abbildung in unserem Auge auf einen kleinen Bereich der Netzhaut fällt, in der bestimmte Rezeptoren in der Lage sind, die vorhandenen Bildinformationen (Formen und Farben) aufzulösen. Nun muss der Betrachter beginnen, das was er sieht, auch zu „sehen“, nämlich zu erkennen und zu interpretieren. Das ist, wie an den Beispielen Perspektive und Frittenbude dargestellt, davon abhängig, welche Seh-Erfahrungen der Betrachter hat und welche Bedürfniszustand gerade herrscht. So wird ein Vierjähriger das Foto eines abgelegten roten Bikinis im Sand mit ganz anderen Augen sehen als sein vierzigjähriger Papa... Das Betrachten eines unbewegten Bildes eines Waldrandes erfordert vom Betrachter eine ungleich höhere Aktivität (verbunden mit einer Anstrengung), als der Blick in „Gottes freie Natur“.
Vom Thema abgeschweift? Ich meine keineswegs:
Nun zum Kern der Sache: Wenn ich eine Knipse am Fallschirm vom Empire-State- Building werfe und der Selbstauslöser funktioniert, entsteht sicherlich ein Bild, das unter Umständen sowohl scharf als auch richtig belichtet sein mag. Was dokumentiert diese Bild? Den zufälligen Zustand einer Sache zu einem bestimmten Datum illuminiert durch die gerade herrschenden Lichtbedingungen. Durch den eventuell zu bestimmenden Bildwinkel ließe sich noch die Brennweite der Optik und die Distanz zum Objekt ermitteln. Kann man es dem Bild aber ansehen, dass es zufällig durch einen willkürlichen Akt entstanden ist ? Ist diese Foto ein Dokument?
Ist diese Foto von Interesse? Kommt darauf an, was es abbildet und wer es sieht.
Der Anblick eines Gebäudekomplexes von oben wirkt auf einen Architekten vermutlich anders als auf einen Immobilienmakler oder eine pferdenärrische Elfjährige.
Eines ist klar: die simple Abbildung eines zufälligen Zustandes eines Objektes, erfasst unter zufälligen Bedingungen, bedarf der Interpretation des Betrachters.
Je nach seiner Vorbildung und seiner Bedürfnislage wird er dem Bild Informationen entlocken, die anderen völlig verschlossen bleiben. Ein Bild muss im wahrsten Sinne so aktiv erlesen werden, wie man die Pfifferlinge im Wald suchen muss.
Der Fotograf ist nicht nur ein Knöpfchendrücker. Er hat die Möglichkeit, durch seine Kenntnis der unterschiedlichen „Sehweisen“ von Kamera und Mensch, Bildausschnitte und Brennweiten, Trägermaterialien (Filme, Chips), Filter, Verschlusszeiten und Blendenöffnungen so einzusetzen, dass sich die Wahrnehmung aller möglichen Betrachter des Bildes auf einen „beabsichtigten“
Bildinhalt fokussiert. Nur durch diese Eingrenzung gelingt es, einen Bildinhalt an so viele Betrachter wie möglich zu vermitteln. Durch seine Bildgestaltung liefert der Fotograf dem Betrachter eine „Lesehilfe“.
Der Fotograf muss nicht nur entscheiden, was abbildungswürdig ist, er muss die für seine Abbildungsabsichten notwendigen Lichtbedingungen abwarten oder schaffen und er muss Ausrüstung und Material sachgemäß nutzen, damit für andere ein Bild (auch mit dem Charakter eines Dokuments) entsteht.
Da die Entstehung eines Bildes ohne „Manipulation“ einer Apparatur bzw. eines chemischen Prozesses nicht möglich ist, bleibt die Frage, wo denn die Manipulation anfängt, für den Betrachter unangenehm zu werden.
Dies ist sicherlich der Fall, wenn das Bild ganz andere Zustände suggeriert, als sie bei der Aufnahme vorherrschten. Die Großaufnahme eines süßen Kätzchens auf einer Mauer mit blauem Himmel dahinter wäre so ein Fall, wenn sich unmittelbar daneben und im Bild nicht sichtbar Einschlaglöcher von MP-Salven und Blutspritzer an der Wand befänden. Ein für mich völlig erschreckendes Beispiel entdeckte ich auf der Homepage einer Firma, die sich mit Bildoptimierung für die Werbung befasst. Arbeitsbeispiele zeigten, wie durch allergeringste Veränderungen (Verzerrungen mit PS etc.) Portraitfotos von Models in dem Maße optimiert wurden, dass eine vom zufälligen Gesichtsausdruck bei der Aufnahme entstandene Anmutung VÖLLIG uminterpretiert wurde. Und das, ohne im fertigen Bild einen Hinweis auf die Manipulation entdecken zu können. Heute sind diese subtilen Bildmanipulationen
in besonderem Maße eine Gefahr, weil sie kaum bemerkt werden. Bildmanipulationen mit brachialen Veränderungen des Inhalts waren/sind? vor allem in totalitären Systemen gang und gäbe gewesen. Wir haben sie heute in subtiler Ausführung und einfachst zu handhaben täglich vor unseren Augen. Alleine der kleine Schubs am Regler für den Kontrast oder die Farbsättigung bzw die Farbabstimmung kann entscheiden, welcher Kandidat für ein bestimmtes Amt beim Zuschauer besser „ankommt“. Einen, dem Redakteur nicht genehmen Regierungschef kann man mit den genannten Schiebern ganz einfach alt und schwach aussehen lassen, während ein wenig mehr Farbsättigung die Argumente des Kontrahenden ungemein aufhübschen kann.
Für mich habe ich entschieden, meine Bilder durch die oben beschriebenen fotografischen Möglichkeiten so zu „manipulieren“, dass es möglichst vielen Betrachtern gelingt, meine Bildvorstellung zu erfassen. Diese schließt jegliche Entfernung/ Spiegelung/Umgestaltung der „wesentlichen, gemeinten“ Bildelemente aus. Zufällige kleine Bild-Objekte, die ich bei der Aufnahme trotz allen Bemühens nicht vermeiden oder sie bildwirksam in die Komposition aufnehmen konnte und die
Bildrezeption stören ( zufälliger Zweig in einer Bildecke, den der Wind bei der Aufnahme in Bild geblasen hat, oder unscharfe Striche, verursacht von fliegenden Schwalben ) erlaube ich mir ebenso wegzustempeln wie Staubkörner. Farb- und Kontrastregler schiebe ich so, dass es niemandem beim Angucken des Bildes schlecht werden muss ber so, dass die für die Beleuchtungssituation typische Lichtfarbe nicht wesentlich verfälscht wird.
Hat jemand bis hier durchgehalten?
Falls ja: Bravo und Danke
Herbert M.