Fast eine Zeitreise: Kleinstadt Jüterbog - und ein gemalter Schatz

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schauinsland

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Zehn Tage Urlaub im Oktober - die Vorfreude auf einen goldenen Herbst war groß.
Wohnmobil gemietet, Fahrräder in die Heckgarage, Wanderzeug und warme Kleidung eingepackt.
Freunde in Berlin besucht, von dort auf nach Brandenburg, das so schöne Landschaften hat.
Aber ach: noch ein sonnig-kalter Tag in Potsdam, und dann: Regen, Regen, Regen, Temperaturen zwischen zwei und acht Grad.
Also sind wir flexibel: Das WoMo ist trocken, die Heizung funktioniert gut: Machen wir doch "Kulturlaub"!

Nach dem dritten Regenmorgen fliehen wir aus dem Havelland - soviel Wasser muss nicht sein - und verlassen Brandenburg a.d. Havel
Richtung Kloster Zinna und Jüterbog (mit Lutherstadt Wittenberg als übernächstem Ziel). Doch nicht von

Kloster Zinna







möchte ich euch jetzt mehr zeigen, sondern von


Jüterbog



Blick vom Wohnmobilstellplatz über den Blanken Teich auf den Südwestrand von Jüterbog mit der Liebfrauenkirche, vor der Abreise nach Wittenberg

 
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Jüterbog ist heute eine Kleinstadt am Rande des Hohen Fläming mit gut 12.000 Einwohnern.
Doch war die Stadt einst ein bedeutender Handels- und Handwerksplatz. Sie erhielt bereits 1174 das Stadtrecht und ist damit die zweitälteste Stadt des Landes Brandenburg.
Von einstiger Größe kündet noch heute das gotische Rathaus, zu dem ich später zurückkehren werde.





Nach dem Dreißigjährigen Krieg lag die Stadt am Boden und erholte sich davon nicht mehr.
Als nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) Kloster Zinna als preußische Weberstadt gegründet wurde
und zeitgleich das nahe Luckenwalde zur Industriestadt aufstieg, verpasste das handwerklich orientierte Jüterbog den Anschluss und verarmte.

 
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Warum "fast eine Zeitreise"? Von den durchgestalteten Städten des Niederrheins kommend, erinnert mich Jüterbog an die Gesichter der Städte meiner Kindheit.
Und der Weg vom Wohnmobilstellplatz in die Stadt sagt etwas über das plötzlich stehengebliebene Wachstum der Stadt aus ihren Stadtmauern heraus:
Ehemals ländliche Katen werden von Stadthäusern umrahmt, und dann endet die Bebauung.



Gegenüber steht ein Bauernhof, der heute einem Reiterverein dient.



Der "Strukturwandel" hat tiefe Spuren hinterlassen.




Die Bilder belasse ich bewusst recht kontrastarm, denn das entspricht nicht nur dem Wetter und dem Licht, sondern auch der Stimmung, die auf mich wirkte.

 
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Die starke gotische Stadtmauer, die einst die Stadt umgab, wurde im 19. Jahrhundert weitgehend niedergelegt.
Wie Museumsstücke stehen jedoch noch drei Stadttore, einige Wachtürme und Mauerreste im Stadtbild. Annäherung von außen an das


Dammtor







Repräsentativ war das Tor, mit sorgsamem Ziegelschmuck.







 
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Von innen ahnt man noch, wie machtvoll die Verteidigungsanlage war. Deutlich sind der Wehrgang über dem Tor und die Reste des Aufganges zu erkennen.




P.S.: Ach ja, zu dem gemalten Schatz komme ich später. Vorher spazieren wir noch ein wenig durch die Stadt.

 
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Oft liegen Soldaten- und Ehrenfriedhöfe außerhalb der Stadt, dem Blick der öffentlichkeit entrückt.
In Jüterbog nimmt jedoch der sowjetische Ehrenfriedhof einen prominenten Raum ein, auf einem angerartigen Platz beim Dammtor



- der Bock ist das Wappentier von Jüterbog -




und auf dem alten Friedhof der benachbarten Liebfrauenkirche.



Das mag daran liegen, dass Jüterbog nach dem 2. Weltkrieg bis 1994 sowjetische Garnisonsstadt war.

 
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So auch das alte Fachwerkhaus mit den "Tetzelstuben", benannt nach dem Dominikanerpriester und Ablassprediger Johann Tetzel (1465-1519),
der u.a. in Jüterbog wirkte und maßgeblichen Anstoß zum Thesenanschlag Luthers an der Wittenberger Schlosskirche gab.






 
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Es war tatsächlich so grau, und eigentlich verbarg die Nieselregensuppe die Türme der Ev. Stadtkirche St. Nikolai noch stärker,
als wir uns morgens zu deren Besichtigung aufmachten.



Die "Große Straße", die vom Dammtor her hier durch den Ort führt, ist eine veritable Bundesstraße (B 102). Und das mit Natursteinpflaster und fragwürdigem Unterbau!
Kein Wunder, dass die Geschwindigkeit aus Gründen des Lärmschutzes auf 30km/h beschränkt ist.



Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: viele Jüterboger pflegen ihre Stadt und ihre Häuser liebevoll.



 
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Doch vor der Nikolaikrche, die den Gemäldeschatz birgt, zeige ich euch noch ein paar Eindrücke vom
gotischen Rathaus.
Interessanterweise steht es an der Südseite des Marktplatzes, sodass der Haupt-Schaugiebel nach Norden weist.



Mächtig ist der zweischiffige, zweijochige Vorbau, der diesen Giebel trägt.



Erbaut um 1300?



Das ist wohl ein wenig geflunkert. Vollendet wurde der Bau nach offiziellen Angaben der Stadt im Jahr 1507.

 
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Der prächtige Nordgiebel zeigt u.a. die Tierkreiszeichen.






Im Ostgiebel sind das Stadtwappen von Jüterbog sowie vier Wappen eingearbeitet, die den Handel (Hermesstab),
Gewerbliche Produktion/Industrie (Zahnrad), die Landwirtschaft (Ähre/Messer) und das Handwerk (Zunftzeichen des Handwerks) symbolisieren.



Klar stammen diese Wappen nicht aus gotischer Zeit. Sie sind, ebenso wie die Tierkreiszeichen,
offenbar bei der Renovierung 1936-38 in Sgrafitto-Technik angebracht worden.
Quelle: https://teltow-flaeming.city-map.de/02012800/das-rathaus-in-jueterbog

 
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Nun aber wende ich mich dem Highlight der Stadt zu, der

Nikolaikirche.

Zwischen 1300 und 1500 in drei Bauphasen unter großem finanziellem Einsatz der Stadtbürger
und auch aus Ablass-Einnahmen erbaut und ausgestattet, drückt sie, neben dem Rathaus, den Bürgerstolz der Stadt aus.
Imposant erhebt sich ihr Dach über die Häuser Jüterbogs.



Das barocke Stockwerk des Nordturms mit Uhr und Schweifhaube ersetzt seit dem 17. Jahrhundert den gotischen Spitzhelm.



Am Westportal begrüßt den Besucher der Namenspatron der Kirche, Bischof Nikolaus von Myra.



Die Blendfialen und der Archivoltenschmuck des Portals sind leider recht verwittert, auch Nikolaus ist schadhaft.



 
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Der Besucher betritt einen beeindruckenden, von mächtigen Backsteinsäulen getragenen Kirchenraum.



Die Farbfassung wurde in einer umfangreichen Restaurierung zu Beginn dieses Jahrtausends nach der Original-Farbgebung der jeweiligen Bauabschnitte wiederhergestellt.

Von oben herab segnet ein Himmelfahrts-Christus (um 1500)



Wunderschön sind im Altarraum der filigrane Schlusstein aus Sandstein



und die gemalten Grotesken um die Lüftungslöcher.



 
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Zur edlen Ausstattung gehört nicht nur die manieristische Renaissancekanzel aus Holz
- hier der Schalldeckel mit Johannes dem Täufer on Top -



sondern auch reiches Figurenwerk vorwigend aus dem 15. Jahrhundert.

Der Märtyrer Sebastian




Besonders bemerkenswert finde ich diese Madonna mit Kind,



trägt sie doch - durch die spätere Farbfassung in der Gewandfarbe etwas verdeckt - zwischen den Brüsten die Wundmale der Mater Dolorosa,
in Anspielung auf die Prophezeihung des greisen Hohepriesters Simeon bei der Darbringung Jesu im Tempel am 40. Tag nach seiner Geburt:

34 Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird
35 - aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen -, damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden.
Lukas 2, 34 f, Elberfelder Übersetzung



Die sind nur zwei Beispiele aus dem bildhauerischen Kirchenschatz, der vor allem im Chorumgang ausgestellt wird.
 
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Zwischenspiel

Die Bemalung im westlichen Teil des Langhauses soll aus dem 2. Bauabschnitt um 1430 stammen.
Sie macht, so der Kirchenführer, "aus den Säulen Bäume, die die Kirche zu einer prächtigen Allee machen."



Sie überspannt überlebensgroße Darstellungen der Kirchenväter im Südwesten



und der vier alttestamentarischen Propheten im Südosten, aus derselben Zeit.



Leider konnte ich keine Beschreibung über Art und Umfang der Befundsicherung und Restaurierung/Rekonstruktion finden.

 
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Als Schatz bezeichne ich nicht das antisemitische Auferstehungsrelief an der Außenwand,



das den aufersentehenden Christus darstellt, auf sein Brust-Stigma zeigend, rechts von ihm unter dem Sargdeckel verschwindend den Soldaten mit Judenhut
und links den fromm betenden Christenmenschen,



und auch nicht die bekannte "Tetzeltruhe" im Inneren.



 
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Vielmehr meine ich die großartigen, zum Teil restaurierten, zum Teil original und fragmentarisch erhaltenen Ausmalungen.

Zunächst die Decke: zweigeteilt nach Altem und Neuem Testament.

Östlich auf grünem Grund das Neue Testamen: die vier Evangelisten mit ihren Symbolen.
Die Rose als Schlussstein steht für Maria, die das Geheimnis des gottessohnes bewahrt.



Darunter ist im Giebel der Ostwand das Martyrium des Sebastianus zu erkennen.

Westlich auf weißem Grund: drei Propheten des Alten Testaments: Elias, Jonas und David (letzterer nicht in meinem Bild).
Der Stern im Schlussstein weist auf den kommenden Erlöser hin.



"Proveta Elias" und "Proveta Jonas"
(interessante Schreibweise!)



"Proveta Jonas"



 
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An der Westwand: Mariae Grablegung mit dem Prozessionszug der Apostel, angeführt von dem als Papst gekrönten Petrus



Hoch wird die aufgebahrte Maria getragen, vom Engelschor begleitet.



An der Nordwand: Mariae Aufnahme in den Himmel (Leider habe ich nur einen Ausschnitt, die Übersicht versehentlich gelöscht).



 
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