Form follows Function ist der am meisten misgedeutete Ausspruch der Geschichte. Der gute Sullivan hat das nämlich bei weitem nicht so gemeint, wie die meisten Leute es zu verstehen glauben.
Ich bin selbst Architekt und kenne mich in Kunstgeschichte und Bauhaus-Stil recht gut aus aber daß die Form NUR der Funktion zu folgen habe, hat noch nie gestimmt und würde gar grausige Auswüchse annehmen.
Ich habe nicht behauptet, dass die Form NUR der Funktion zu folgen hat, denn dieser Umkehrschluss aus dem, was ich geschrieben habe, ist nicht zulässig. Ich habe geschrieben, dass eine Formgebung abzulehnen ist, die die Funktion nicht berücksichtigt, sondern nur Formgebung um ihrer selbst Willen ist. Ich glaube nicht, dass Du mir da widersprechen würdest, denn seit wann wäre es die Aufgabe von Architekten, Gebäude zu entwerfen, die zwar schön sind, aber den ihnen vom Bauherrn zugedachten Zweck nicht oder höchstens zufällig erfüllen.
Ein Wohnhaus, das toll aussieht, aber den Bedürfnissen seiner Bewohner nicht gerecht wird, weil z. B. die Türen zu schmal und die Treppen zu steil sind, wäre schlimmer als ein funktionaler "Wohnkasten", der zwar in der Formgebung einfallslos und langweilig ist, aber wenigstens seinen Zweck erfüllt, auch wenn er z. B. eine städtebauliche Sünde darstellt. Im Idealfall, da sind wir uns einig, verbindet ein gutes Design beides, eine ansprechende Formgebung und ein hohes Maß an Funktionalität.
Bei Markenprodukten wie Kameras kommt unabhängig von der Funktionalität hinzu, dass die sogenannte Corporate ID erkennbar werden soll. Eine Nikon-DSLR soll eben auf den ersten Blick als eine Nikon erkennbar sein und nicht mit einer Canon, Olympus, Pentax oder Sony verwechselt werden. Nikon hat sich dazu, neben seinem Schriftzug auf der Stirnseite des Suchergehäuses, für ein Designelement entschieden, das wir alle kennen: das rote Inlay am Griff. M. W. wurde es 1980 mit der F3 von Giorgio Giugiaro erstmalig eingeführt, damals noch als dünner senkrechter roter Balken. Dieses Designelement erfüllt unter rein technischen oder ergonomischen Gesichtspunkten keine Funktion. Unter dem Gesichtspunkt einer raschen Wiedererkennung der Marke ist es nicht für den Fotografen, sondern für die Firma Nikon wichtig. Der wohl entscheidende Punkt sind aber die Anforderungen, die eine moderne, möglichst kostengünstige Massenproduktion an ein Design stellen. Alles, was sich unter kaufmännischen Gesichtspunkten nicht rechnet, weil man vor der Markteinführung davon ausgeht, dass die potentielle Kundengruppe nicht bereit sein wird, den entsprechenden Aufpreis dafür zu bezahlen, wird entweder weggelassen oder es wird eine möglichst kostengünstige Alternative gesucht. Es wäre wohl als Blindheit gegenüber marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bezeichnen, wenn man nicht berücksichtigt, dass dies erhebliche Auswirkungen auf das Design hat.
Ob einem das Nikon-Design gefällt, ob man die D800 überhaupt als ein wirklich "neues Design" wahrnimmt oder eher als eine weitere Spielart einer schon bekannten Formensprache, die letztlich auch nicht viel daran ändert/ändern kann, dass DSLR-Gehäuse heutzutage von außen schwarze Klötze sind, die sich, von Kleinigkeiten abgesehen, doch alle mehr oder weniger ähnlich sind, das muss am Ende jeder für sich entscheiden. Und auch, welchen Stellenwert er persönlich der Formgebung einräumt.
Ich persönlich möchte mit einer DSLR vor allem gute Fotos machen, daher ist mir eine intuitive Bedienung und gute Handlage wichtiger als eine Formgebung, die Aspekte der Ergonomie zugunsten einer "eleganten Hülle" vernachlässigt. Das soll nicht heißen, dass ich die D800 hässlich finde, auch wenn sie an Klassiker wie die F3 mit ihrer klaren Linienführung bei weitem nicht heran reicht.