Die große schwarze Hoffnung.
Südafrika – ein Zukunftsmodell für den Kontinent?
"DAS LAND IM TIEFEN SÜDEN. Was uns an ihm zuerst auffällt, sind seine Extreme. Die Weite und die Enge. Die Leere und die Fülle. Die Erstarrung und die Rastlosigkeit. Der Mangel und der Überfluss. Das Rückständige und das Moderne. Wir fahren durch stilles, menschenleeres Land und erreichen plötzlich lärmende Zonen, die hoffnungslos übervölkert sind. Wir sehen Spielplätze, auf denen kein Kind spielt, Schwimmbäder, in denen niemand schwimmt, Straßen, die kein Auto befährt. Im nächsten Moment rasen uns Kleinbusse entgegen, die so überfüllt sind, dass sie eigentlich sofort aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Wir entdecken wunderschöne Paläste in bukolischen Weingärten und nicht weit davon ein Meer von Blechhütten. Wir vergleichen zwei benachbarte Schulen. Die eine platzt aus allen Nähten, in der anderen verliert sich ein Häufchen Schüler.
Es ist eine zweigeteilte Welt, und wenn wir uns mit den Bewohnern ihrer Teile unterhalten, haben wir den Eindruck, sie reden von völlig verschiedenen Ländern, von einem schwarzen Land und einem weißen, manchmal auch von einem braunen, das irgendwo dazwischen liegt, und es verwundert uns nicht mehr, dass sie auch ihre Geschichte durch diese Farbfilter betrachten. Die Weißen erzählen, sie habe mit der Landung eines holländischen Seefahrers namens Jan van Riebeeck anno 1652 begonnen. Die Schwarzen betonen, sie seien schon tausend Jahre frü-her angekommen, in einer Zeit also, in der das Römische Imperium zerfiel und die Europäer noch gar keine Vorstellung von Afrika hatten. Die Khoikhoi und San, die letzten Ureinwohner des Landes, weisen uns darauf hin, dass die ältesten Felszeichnungen, die ihre Frühkultur do-kumentieren, 26 000 Jahre alt sind.
Das Land heißt Südafrika, und die Gegensätze, die uns allerwegen und allerorten begegnen, sind die Signaturen der Apartheid. Dieses Wort aus dem Afrikaans, der Sprache der ersten weißen Siedler, ist in den Wortschatz der Welt eingegangen. Es bezeichnet ein Wahngebilde, das die Menschen und ihre Lebensräume nach Rassen trennt.
Südafrika hat 43 Millionen Einwohner, 34 Millionen Schwarze, 3,8 Millionen coloureds, also Mischlinge, 1,1 Millionen Bürger asiatischer Abstammung und 4,5 Millionen Weiße. Ihr Land gehört zu den schönsten und vielfältigsten Afrikas; es ist gewiss das wohlhabendste, das wider-sprüchlichste, das komplizierteste Land des Kontinents, und manchmal habe ich das Gefühl, dass es umso schwieriger wird, dieses Land und seine Leute zu verstehen, je länger man darin lebt. Vermutlich liegt das auch daran, dass man mit den Jahren die Distanz verliert, weil man selber Teil der Gesellschaft wird. „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind“, postuliert Goethe, der ja bekanntlich nicht über Sizilien hinausgekommen ist. Ich weiß nicht, ob ich die zehn Jahre unter den Palmen Südafrikas als Strafe empfinden soll, wilde Tiger gibt es hier nicht, und ob meine Gesinnung sich gewandelt hat, mögen andere beurteilen. Aber dieses Land hat zweifelsohne Spuren in mir hinterlassen. Hier bin ich zum Weißen geworden. Die Hautfarbe ist, ob man will oder nicht, ein gesellschaftlicher Definitions- und Teilungsfaktor. Als Weißer gehört man zu einer Minderheit. Als Weißer wird man für reich und privilegiert gehalten. Als Weißer hat man weiße Ängste. Als Weißer schämt man sich manchmal. Man ist natürlich auch Ausländer. Aber man wird unweigerlich erfasst von all den kollektiven Stim-mungsamplituden, die der Schriftsteller Alan Paton einmal beschrieben hat: heute zutiefst pessimistisch, morgen hoffnungsfroh. Das hängt mit dem Schwebezustand zusammen, in dem sich dieses Land befindet. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, und keiner weiß, wie es einmal wird. Südafrika ist ein Land im Übergang. Es hat sich und seinen Platz in Afrika noch nicht gefunden."
(aus: Bartholomäus Grill, „Ach, Afrika – Berichte aus dem Inneren eines Kontinents“, 4. Auflage, München (Goldmann), 2005, S. 319 ff.)
Mit diesen einleitenden Worten des Afrika-Korrespondenten der ZEIT möchte ich Euch diesmal mitnehmen auf eine etwas andere Afrika-Reise, die ich zusammen mit meinem Chor Ende Oktober für zwei Wochen unternommen habe.
Zuletzt bearbeitet: