NF-Rezension Roger Wehrli. Bilbao. Fotografien seit 1988

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AnjaC

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Eine Rezension unseres Community-Mitglieds Ansgar Hoffmann

Fotografische Dokumentation einer städtebaulichen Metamorphose

Der Schweizer Fotograf Roger Wehrli unternahm zwischen 1988 und 2014 mehrere Reisen nach Bilbao, der baskischen Metropole und der einst „wohl schmutzigsten Stadt Spaniens“ (laut Buchankündigung des Verlages). Wehrlis fotografische Dokumentation setzt sich aus einzelnen Momentaufnahmen zusammen, da er in großen zeitlichen Abständen Bilbao aufsuchte und so die Entwicklung der Stadt naturgemäß nur punktuell einfangen konnte. Seine erste Reise führte ihn mit Anfang 20 nach Abschluss einer fotografischen Lehre mit einer Kleinbildkamera und einigen S/W-Filmen ausgestattet unter anderem auch nach Bilbao.

Ausgelöst durch die Stahlkrise, den erzwungenen Strukturwandel und die damit einhergehenden sozialen Spannungen veränderte sich die Stadt mit Macht innerhalb kürzester Zeit von einer „dreckigen Industriestadt“ mit teils unerträglichen Wohn-und Lebensbedingungen hin zu einer schmucken, oft jedoch auch beliebig daherkommenden Kulturstadt.

Der im Buch kritisch hinterfragte und ebenso kritisch beleuchtete Wandel mit dem Trend einer neoliberalen Stadtentwicklung fokussiert sich für Wehrli wie auch für viele Bewohner Bilbaos am Bau des Guggenheim-Museums, erbaut nach den kühnen und modernen Entwürfen des amerikanischen Architekten Frank Gehry. Dieses Bauwerk markiert umso mehr jenen Wandel, da das Museum auf dem brachliegenden Grundstück der Euskalduna-Werft entstand. Die Euskalduna-Werft schloss 1988 ihre Tore und läutete mit der schlagartigen Entlassung von 6000 Angestellten und Arbeitern das Ende des Schiffsbaus in Bilbao ein.

Wehrli nimmt „die rauchenden und Feuer speienden Kamine der Hochöfen“, die „in der öligen Kloake der Ria vor sich hin rostenden Frachtschiffe“, die „heruntergekommenen, rußgeschwärzten Mietskasernen“ in seinen Fokus, im Kontrast hierzu jedoch auch die heutige Flaniermeile am Rio Nervión, den schicken und modernen Zugang zur Metro, die „bessere Gesellschaft“, die sich zur Vernissage einer Kunstausstellung in der Banco Bilbao Viscaya trifft.

Seine Fotos erzählen spannende Geschichten über die Portraitierten wie auch das Dokumentierte, beschreiben die sozialen Spannungen und vor allem, mit einem melancholischen Timbre, den Wandel der Stadt: die anfängliche Begeisterung für die noch überwiegend industriell geprägte Stadt, die der Fotograf Ende der 80er Jahre als Motiv für sich allein zu besitzen scheint, das Interesse am Wandel der Stadt in den 90er Jahren wie auch die Enttäuschung über den teilweisen Verlust des ursprünglichen Charakters. Deutlich wird dies durch den klaren Gegensatz der Aufnahmen von 2014 zu den früheren Bildern.

Neben dem Fotografen selbst kommt im vorangestellten Textteil auf mehreren Seiten auch der in Bilbao geborene Autor, Übersetzer und spätere Leiter des Münchener Instituto Cervantes zu Wort, der die Verwandlung der Stadt aus eigener Erfahrung beschreibt, die Flucht der Eltern vor der verpesteten Luft, die gravierenden sozialen Spannungen, die sich nahezu täglich in irgendwelchen Straßenschlachten entluden.

Layout
Nach meinem Eindruck verwirrt das Layout an einigen Stellen mehr als dass es die Lesbarkeit unterstützt: seien es quergedruckte Überschriften und Seitennummerierungen, fehlender Abstand zwischen Überschrift und Text bzw. Text und Seitennummerierung oder Verzicht auf die Großschreibung bei Überschriften. Positiv hervorzuheben ist die wechselweise Anordnung von seitenfüllenden, doppelseitigen Abbildungen und kleineren Fotografien, die Platz für die Bildbeschriftungen bieten. Die doppelseitigen, großformatigen Bilder wirken eindrucksvoll, insbesondere, wenn Industrieanlagen, Brachen und Ähnliches abgelichtet wurden.

Qualität
Das Buch hinterlässt mit seinen etwas dickeren Seiten einen wertigen Eindruck. Auf dem matten Papier kommen vor allem die großformatigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit seitenfüllenden Bauwerken und Industrieanlagen gut zur Geltung. Einige wenige ältere Aufnahmen wirken etwas grobkörnig und leiden unter einem leichten Verlust an Detailreichtum und Kontrast (vgl. Gallarta 1989: Kraterwände, die sich nun dort auftürmen, wo einst ein altes Bergbaudorf stand).

Entstanden ist das Buch dank der Unterstützung von Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen und dank der finanziellen Beteiligung von Privatpersonen im Rahmen eines Crowdfunding-Projektes.

Fazit
Wer sich für Bilbao interessiert und für die fotografische Dokumentation einer städtebaulichen Metamorphose, dem sei dieses Buch nachdrücklich empfohlen. Vier von fünf Sternen.

Die Daten

Roger Wehrli. Bilbao. Fotografien seit 1988 erschien am 20. April 2017 im Verlag Scheidegger & Spiess. Fotografien von Roger Wehrli. Texte von Roger Wehrli und Ibon Zubiaur. 1. Auflage, 2017. Text Deutsch und Englisch, gebunden, 160 Seiten, 95 Duplex-Abbildungen, 17 x 24 cm
ISBN 978-3-85881-535-4
Preis CHF 39,00 | EUR 38, 00

Rezension: Ansgar Hoffmann

Bewertung:
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ISBN: 3858815357

 
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