AW: anonymes Bild Nr. 372 *
Mir ist jetzt gerade mal danach, das Bild wirklich genau anzuschauen und zu erfassen. Der folgende Text wird daher etwas länger
Ich sehe
- ein Farbbild im Hochformat, aufgenommen in einer vermutlich gotischen Kirche.
- 5 Pfeiler des Hauptgangs und 2 Pfeiler des Seitengangs, in den Bögen jeweils mit Verzierungen (Mosaik? Malerei?) versehen
- zwischen dem 3. und dem 4. Pfeiler eine Kanzel auf einem Steinsockel
- einen Teil des rechtsseitigen Gestühls
- einen Teil des Deckengewölbes, verziert mit Schlußsteinen und vermutlich floralen Ornamenten
- angeschnittene/verdeckte Fenster des Seitengangs ohne Glasornamente, ebenso angeschnittene/verdeckte Fenster der Empore, deren untere Hälfte jeweils mit einfarbigen, hier grau dargestellten Ornamenten versehen ist
- einen schwarzgekleideten Menschen, der den Hauptgang aus Richtung Altar in Richtung Ausgang entlanggeht und in der Bewegung verwischt ist
- an einem Pfeiler im Hintergrund eine Statue
- von der Decke hängende, eingeschaltete Lampen
- im Hintergrund einen Teil einer Seitenkapelle
Was ist das Hauptmotiv? Ich habe eine Weile überlegt. Es kann imho nur die in der Bewegung verwischte Person sein, die den Hauptgang entlang schreitet. Das Bild wirkt auf mich wie ein schnell gemachter Schnappschuss, eine Momentaufnahme: schnell die Person, die durch den Gang kommt in Relation zu der Größe der Kirche einfangen!
Die Gestaltungsmittel: Das Bild muss mit einer längeren Belichtungszeit aufgenommen worden sein. Mal davon ausgehend, dass kaum jemand durch eine Kirche joggt sondern langsam geht, wäre die Person sonst kaum so verwischt. Die Lichter in den Fenstern und Lampen sind ausgefressen, die Schatten links im Bild abgesoffen, was einen überdeutlichen Kontrast ergibt. Alle Linien stürzen. Als Flächen, Rechtecke und Quadrate nehme ich die Pfeiler, die Seitenteile des Gestühls und den Boden wahr. Punkte ergeben sich in den Pfeilerornamenten, den Lampen und dem Kopf der Person. Schwünge und Bögen bilden sich in den Pfeilern, den Läufern des Deckengewölbes und Fensterbögen und der Schulter-Arm-Partie der Person ab. Das Spiel mit Schärfe und Unschärfe fokussiert auf die in Bewegung eingefangene, unscharf abgebildete Person, während der Kirchenbau deutlich schärfer erscheint, ein starker Kontrast.
Die Bildaussage kann ich nur mutmaßen, sie erschließt sich mir nicht sofort. Möglicherweise ist es die klein wirkende, in Bewegung befindliche Person in dieser großen, monumentalen, erstarrten und "in Stein gemeißelten" Kirche. Einziger Ankerpunkt in dieser verzerrt dargestellten Architektur ist jedenfalls der Mensch.
Das Bild spricht mich nicht an, wohl vor allem, weil die Bildaussage für mich nicht klar ist und das Bild auf mich wenig gestaltet wirkt. Die ausgefressenen Lichter könnte man ggf. im RAW noch mittels der Überblendtechnik retten, den Schatten durch selektive Anhebung der Tiefen möglicherweise mehr Struktur geben. Den Weißabgleich finde ich zu kühl gewählt. Selbst wenn es vor Ort so gewesen wäre, hätte ich den Grundton des Bildes im Nachhinein etwas wärmer und damit gefälliger gestaltet. Was mich vor allem stört, sind die stürzenden Linien und die wie zufällig gewählt wirkende Perspektive, die mir keinen Halt beim Betrachten bietet. Stürzende Linien können ein sehr wirkungsvolles Gestaltungsmittel sein, für mich aber wirken sie hier beliebig und nicht gewollt zur Gestaltung eingesetzt. Die Bildränder sind uneinheitlich, sehr vieles ist angeschnitten, es gibt keine Eckenläufer, keine zentralen Punkte im goldenen Schnitt. Wohlgemerkt: das ist alles kein "muss", aber hier hätte ich mir doch zumindest das eine oder andere als "Halt" im Bild gewünscht. Falls es tatsächlich um die Person und ihren Weg geht, hätte ich die Perspektive mehr nach links blickend in den Hauptgang hinein gewählt, um das woher und wohin herauszustellen. So ist mir zu viel vom für diese Aussage irrelevanten Seitengang und -Gestühl vorhanden.
Aber wer weiß, vielleicht war ja auch etwas ganz anderes gemeint, das sich mir nicht erschließt.
Kurz: für meinen Geschmack gibt es zu viele Störungen im Bild, als das eine Bildaussage deutlich zum Tragen käme. Deshalb bin ich sehr auf die Rückmeldung des Fotografen gespannt!