Anekdotische Evidenz ....

Thread Status
Hello, There was no answer in this thread for more than 30 days.
It can take a long time to get an up-to-date response or contact with relevant users.

sam25

NF-Community VIP Member
Registriert
Wenn ich jeweils im Auto zwischen sechs und halb sieben Uhr morgens im Auto sitze, dann höre ich meistens den Kultursender des Schweizer Radios. Und da erfahre ich gleich die erste Weiterbildung am Tag: «100 Sekunden Wissen». Wunderbar, meine Neugier wird schon früh am Morgen temporär gestillt.

Nun, bis zu diesem Zeitpunkt habe ich ja schon Programm hinter mir. Ein Kaffee, mit Ena, unserer Hündin einen Morgenspaziergang gemacht, geduscht, angezogen, das Mittagessen vorbereitet, wenn es dann etwas zum Mitnehmen hat.

Und dieser Tage kam der Begriff «anekdotische Evidenz» dran, welcher so einfach nicht in meinem Sprachrepertoire zu finden war. Aber ich denke, er passt zur heutigen Zeit, zum Coronavirus und zu dem was sonst noch alles abgeht.

Wenn ich nun also etwas ausführliche werde, dann schliesse ich mich immer mit ein. Und ich spreche dann immer in der Regel von mir, ohne den Anspruch in die Welt zu werfen, dass ich recht habe.

Und wer sich nun die Zeit nimmt, meine Gedanken fertig zu lesen, der oder die hat sich schon hingesetzt.

Nun grundsätzlich bin ich ein gutgläubiger Mensch. Ich bin schnell im Gespräch, auch mit wildfremden Menschen. Ich gehe davon aus, dass das, was sie mir sagen, auch irgendwie stimmt. Etwas flunkern gehört ja wohl zum biologischen menschlichen Gebaren. Mit dem kann ich umgehen. Ich führe schräge Dialoge mit meinen Motiven, aber das bin ich. Ansonsten ticke ich im Normalbereich mit scharfem Humor aber auch mal das Gegenteil. Ich würde jetzt behaupten, dass sich bis jetzt die Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung einigermassen decken würde.

Nun, die «anekdotische Evidenz» unterscheidet sich zur «empirischen Evidenz». Erstere ist nicht immer falsch, aber meistens unrichtig. Sie beruht auf der Basis, dass ich meine Erfahrungen verallgemeinere, respektive ich sie als richtig betrachte. Ein Beispiel: wenn ich im Auto an einer Baustelle vorbeifahre und ich sehe zwei Strassenbauarbeiter miteinander reden, dann kann meine Schlussfolgerung sein, dass alle Strassenbauarbeiter faule Säcke sind. Punkt. Empirisch stimmt das ja nicht. Aber das interessiert mich ja nicht. Ich müsste mich dann bemühen, meine «Wahrnehmung» zu überprüfen. Und das tue ich in der Regel nicht. Nicht weil ich die Zeit nicht hätte. Ich gehe aber das Risiko ein, dass ich falsch liege.

Wir Menschen ticken ein Stück weit so. Und so entstehen Bilder und Geschichten, die dann oft nicht mehr aus den Köpfen von uns Menschen zu bringen sind. «Anekdotische Evidenz» wird effizient zur Meinungsbildung und in der Werbung genutzt und am Schluss sind wir sehr verwundert darüber, dass es doch nicht so ist, wie wir eigentlich dachten. Und das, das ist im Grunde genommen genau so menschlich wie peinlich.

Dass das Thema «Corona» auch hier im Forum nicht Halt macht, ist wenig erstaunlich. Es zeigt Mechanismen des menschlichen Daseins auf, welche nicht nur einem menschlichen Betätigungsfeld zuzuweisen ist, sondern einfach in allen Lebensbereichen Einklang finden. Es ist einerseits das Thema «Ohnmacht», welche uns immer wieder in die drei Urinstinkte führt: Rückzug (Flucht, Angst), Stehenbleiben (Starre, Angst) und Angriff (kann auch Angst mitschwingen). In der Fotografie ist es ja in etwa ähnlich, nur nicht so offensichtlich. Die einen werfen ihr Hobby nach dem Kauf einer teuren Ausrüstung ziemlich schnell über Bord (die Technik macht keine guten Bilder), die zweiten bleiben dann irgendwann irgendwo stehen und die Dritten sind immer noch der Meinung, die Kamera ist für meine Motive noch nicht erfunden worden. Oft arbeitet unser Hirn mit den verschiedensten Kombinationen, wobei in grosser Bedrängnis wir uns für unser urtypisches Verhalten entscheiden.

Mit dem Coronavirus kann man ja grundsätzlich alles falsch machen. Es gibt fast nichts, was man richtig machen kann, zumindest wenn man dem Grundsatz der anekdotischen Evidenz folgt. Und bezeichnenderweise ruft das noch mehr Hobbyexperten auf den Plan als sonst. Egal, wer es auch immer ist. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Es ein Stück weit eine Form, damit umzugehen. Aber es ist genauso «anekdotisch» über die Medien und die Behörden herzufahren, weil die letztlich dasselbe durchmachen wie wir «Fussgänger». Kein Medium würde es mehr geben, wenn wir es nicht lesen würden. Wir stehen also genau so in der Verantwortung: wir als Konsumenten, wie wir als Produzenten. Auf Stuss folgt Stuss, oder auf Verständnis im besten Fall ebenfalls Verständnis.

Und wenn ich erneut auf 100 Sekunden Wissen zurückgreife, dann musste ich heute Morgen schmunzeln, als ich vernahm, dass es die «heilige Corona» gibt. Weniger schmunzeln musste ich über ihre Geschichte, dass ihr Leben mit ca. 16 Jahren ein jähes und brutales Ende fand. Dass sie gleichzeitig nicht nur Heilige ist, sondern auch die Schutzpatronin der Schatzsucher geworden ist, hat mich erneut zum Schmunzeln gebracht.

So manche Lebensbereiche sind die letzten Jahrhunderte oder sogar Jahrtausenden auf dieser anekdotischen Evidenz gewachsen und haben sich entwickelt. Nicht unbedingt falsch, aber meistens, wie bereits erwähnt, oft doch auch unrichtig. Und wir wissen im Grunde genommen, dass es so ist, haben aber keinen Anlass, dies zu ändern. Oder zumindest nicht sehr oft.

Aber gehen wir zurück zu den Viren. Nüchtern betrachtet ist ein Virus ein Lebewesen mit den gleichen biologischen Absichten wie jedes Lebewesen auf der Welt auch. Warum das so alles organsiert ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist nun mal so. Ein Lebewesen, unabhängig von Grösse, Farbe und so weiter, hat letztlich nur ein Ziel: sich zu vermehren und sich einen Platz auf in diesem biologischen Komplex zu suchen. Dass es jemand anderen stören könnte, ist vorab kein Argument. Und schon gar kein Argument ist es, die eigene Ausbreitung zu unterlassen. Letztlich koste es was es wolle. Damit reiht sich ein Virus ins gleiche Verhalten wie der Mensch ein. Diese Aussage sei nur so nebenbei bemerkt.

Ein Virus verhält sich also ziemlich menschlich. Grundsätzlich macht es bei der Einnistung in einen Wirt (menschlicher Körper) keine Vorabklärungen. Und setzt ein Virus auf das falsche Pferd, dann ist es hin. Was wiederum für den Betroffenen bedeutet, dass dieser weiterlebt. Da muss ich doch dem Menschen, zumindest teilweise, ein Kränzchen winden. Irgendwann kommt man zum Schluss, dass es wohl sinnvoll ist, vorab die Risiken abzuklären, bevor man in etwas investiert. Nun, dem Virus ist das egal. Wobei, das Virus hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber von uns: wir Menschen können der rasanten Vermehrung des Virus nichts entgegensetzen. Würden wir uns so schnell vermehren: gute Nacht! Und der Vermehrungsakt eines Virus ist wesentlich einfacher als bei uns Menschen.

Nun: jedes Lebewesen braucht eine ihm angenehme Umgebung, irgendwelche Nahrung und sonstiges. Das «Sonstige» ist so eine Sache: mit dem Virus können wir ja nicht sprechen. Wir können ihm auch keine Alternative anbieten. Wir sind seinen Entscheidungen ausgesetzt. Punkt. Und das bedeutet, dass wir uns Menschen – und das tun wir einfach nicht gerne – uns zu fügen haben. Das ist grundsätzlich ein doofes Gefühl. Es ist schon schwierig, einem Mitmenschen klein bei zu geben, aber den sieht man wenigstens oder kann ihm aus dem Weg gehen. Aber ein Virus? Das geht eigentlich überhaupt nicht! Das sagt nicht einmal guten Tag, klopft nicht an und überhaupt….

Die anekdotische Evidenz ist hilfreich wie oberflächlich zugleich. Sie durchdringt unser Leben, unser Denken ohne dass wir das bewusst wollen. Aber sie ist präsent und führt uns immer wieder in die Sackgasse. Auch mit dem Umgang mit neuem Virus. Mir hat die Aussage meiner Frau Claudia sehr Eindruck gemacht, als sie die Diagnose Brustkrebs erhielt. Sie hat gesagt, dass sie dem Krebs nicht böse sei. Sie würde ihn auch nicht bekämpfen, sondern ihm in Würde und Respekt begegnen. Sie würde ihm aber auch sagen, dass er bitte aus ihrem Körper gehen soll. Das hat mich tief beeindruckt. Und ja, natürlich haben alle Therapien, Gespräche und vieles mehr geholfen. Aber ihre Haltung hat viel dazu beigetragen, davon bin ich überzeugt.

Was wir säen ernten wir. Irgendwie und irgendwann. Das hat nichts mit Pessimismus zu tun. Sondern mit biologischen Prozessen. Das Bittere bleibt, wenn uns wieder etwas einholt, dass uns schadet. Alle reden vom Leben langen lernen und das ist anstrengend. Und vielleicht liegt die Chance darin, die Kamera zur Hand zu nehmen und sich an dem zu freuen was man hat. Und dann vor die Tür zu treten, tief durchatmen und mit wachen und dankbaren Gefühlen in die Welt zu gehen. Und vielleicht öfter darüber nachdenken, ob wir wirklich richtig liegen. Nicht abwertend uns selbst gegenüber. Sondern dankbar, etwas entdeckt zu haben und die Chance zu kriegen, etwas zu korrigieren.

Und vielleicht hätte man Corona dazumal nicht in Stücke reissen müssen, wenn man mit ihr gesprochen hätte. Vielleicht hätte sie viel zur Entwicklung und zum Verständnis beitragen können, wie Menschen miteinander umgehen könnten. Vielleicht. Die Geschichtsschreibung wollte es nicht so.

Und wenn ich heute meines Berufes geamtet habe und das Leben eines alten Mannes durchforsten musste, dann berührt mich das immer wieder aufs Neue. Und wenn ich dann hie und da die Ruhe in einer Kirche suche, um mich wieder zu orientieren, dann hat das wenig mit Religion zu tun. Sondern mit mir. Aber auch das kann man durchaus als «anekdotische Evidenz» auslegen. Den Brief, welcher der alte Mann an das Gericht schrieb nicht. Das ist seine individuelle, empirische Evidenz. Und das treibt mir immer wieder aufs Neue die Tränen in die Augen.

Und so sei mir der Nachtrag erlaubt, zu erwähnen, dass bei mir ziemlich alles unplanbar geworden ist. Mein oberstes Erreichen ist meine grosse Familie zu schützen. Das werde ich nur bedingt können. Und so wie es aussieht, werden wir früher oder später auch betroffen sein. Sam ist Sam, aber ich tue alles, um unsere grosse Familie zu schützen. Den Rest stell’ ich hinten an.

Statt der gescheiten Worte, erhoffe ich mir Solidarität und Menschlichkeit. Mehr nicht. Und sollt man uns die «Fresspäckli» in den Vorgarten werfen müssen, dann hoffe ich, dass die Menschen das mit Liebe tun. Und ich weiss, dass sie das tun werden. Und um in Claudia’s Worten sinngemäss zu sprechen: ich begegne Dir, Corona, mit Würde und Respekt. Und ich akzeptiere deine Präsents, auch wenn ich wegen Dir ziemlich herausgefordert bin.

Tragt Euch und Euren Lieben Sorge. Herzlich. Sam



full





full





full





full
 
Anzeigen
Was will uns der TE hier sagen mit dem laaangen Text und den Bildern...

Memento mori? :upset01:

Grüße - Bernhard
 
Kommentar
Lieber Bernhard

Ich bin im Moment nicht in der Stimmung, um deine Frage zu beantworten.
Vielleicht nur dies: Schreiben und Fotografieren entlastet ....
 
Kommentar
Verständnisfrage an Sam:
Bist Du von Beruf das was man bei uns in D Gerichtsvollzieher nennt?

Das ist nicht wertend zu verstehen, bitte.
 
Kommentar
Verständnisfrage an Sam:
Bist Du von Beruf das was man bei uns in D Gerichtsvollzieher nennt?

Das ist nicht wertend zu verstehen, bitte.

In der Schweiz heisst das „Kinder- und Erwachsenenschutz“. Ich erhalte als „Beistand“ vom Gericht Aufgaben für die Betroffenen, welche den Bedürfnissen der Betroffenen angepasst und verhältnismässig sind ...
Ich nehme, ob och will oder nicht, von einem Tag auf den anderen, Teil am Leben eines Mitmenschen, den ich vorhin nicht gekannt habe...
 
Kommentar
Ich erhalte als „Beistand“ vom Gericht Aufgaben für die Betroffenen, welche den Bedürfnissen der Betroffenen angepasst und verhältnismässig sind ...
Verstehe ich das richtig, das Gericht gibt den "Betroffenen" Aufgaben die sie nicht selber erledigen können und Du hilfst dabei sie zu bewältigen?
Welche Aufgaben sind das denn?

Grüße - Bernhard
 
Kommentar
Danke der Nachfrage, Bernhard. Ja, es deckt wohl den Begriff "Pflegeschaft" ab. Es ist eine vom Gericht eingesetzte Person, welche nach geltendem Recht Aufgaben in allen möglichen Lebensbereichen übernimmt, respektive die Betroffene Person vertritt, sofern der gesetzliche Schutzbedarf ausgewiesen ist.

Der Schutzbedarf kann sowohl Kinder wie auch Erwachsene treffen: Kinder, bei hochstrittigen Eltern, bei Misshandlungen, Behinderungen usw. Es kann aber auch für Menschen sein, welche dement sind und ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Die Aufgaben, welcher ein "Beistand", so wie es in der Schweiz heisst übernimmt, werden auf den "Bedarf" abgestimmt. Und der Beistand macht ja nicht alles alleine. Also wenn er zum Beispiel für die Gesundheit des Betroffenen zuständig ist, dann organisiert er zum Beispiel Hilfe für zuhause usw..

Und so bin ich täglich, nebst unserer Pflegefamilie mit vielen Themen konfrontiert ....
 
Kommentar
Hallo,

im Deutschend trifft es wohl Vormund oder Betreuer. Wenn man das nicht wünscht, muss man rechtzeitig Verfügungen verfassen. Aber das nur am Rand.

Zum Text möchte ich sagen, dass ich diesen reflektierten Umgang bewundernswert finde, wenngleich mir schon weniger Hysterie reichen würde. Bleibt alle gesund.
 
Kommentar
-Anzeige-
Zurück
Oben Unten