Ausstellung Neue Wahrheit? Kleine Wunder! Die frühen Jahre der Fotografie

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AnjaC

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Ausstellung in der Kunstsammlung Jena​

Daguerreotypie-Kamera mit Platten-Kästchen, verschiedenen Fläschchen und Daguerreotypien-Platten, ca. 1841 © Collection H.G
Daguerreotypie-Kamera mit Platten-Kästchen, verschiedenen Fläschchen und Daguerreotypien-Platten, ca. 1841 © Collection H.G

Die Kunstsammlung Jena zeigt noch bis zum 31.10.22 in der Ausstellung „Neue Wahrheit? Kleine Wunder!“ eine private Sammlung von Fotografien, die uns zu den Ursprüngen der Daguerreotypien führt - oder besser: entführt. Die Sammlung ist sehr umfangreich und in ihrer Dichte geradezu grundlegend. Das Besondere ist aber nicht nur deren Qualität und Fülle, sondern auch die Vielfalt der Objekte. Ausgestellt sind nicht nur Fotografien, sondern auch die frühen Apparaturen, Versuchsaufbauten, Drucke und Literatur. Sogar die heftig geführten Debatten in der zeitgenössischen Presse begleiten die Auswahl der Objekte.

Die Ausstellung gastierte im letzten Herbst/Winter im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt. Ich kann sie euch nur ans Herz legen!

Hier der Text der offiziellen Ausstellungsankündigung:

„Welch eine wunderbare göttliche Erfindung, die Daguerre gemacht hat! Ich sage Ihnen, man könnte den Verstand verlieren, wenn man so ein von der Natur gewissermaßen selbst geschaffenes Bild sieht.“
Der Berliner Kunsthändler Louis Sachs am 26. September 1839 in Paris

Unbekannter Daguerreotypist, Porträt eines kleinen Mädchens, um 1845, kolorierte Daguerreotypie © Collection H.G
Unbekannter Daguerreotypist, Porträt eines kleinen Mädchens, um 1845, kolorierte Daguerreotypie © Collection H.G

Es war jener magische Moment einer internationalen Erfolgsgeschichte, als der bekannte Maler Louis Mandé Daguerres am 19. August 1839 in Paris offiziell seine Erfindung vorführen ließ. Zum ersten Mal wurden der staunenden Öffentlichkeit fotografische Bilder präsentiert. Das Geheimnis ihrer Entstehung, über das bereits seit einigen Monaten in ganz Europa rege Gerüchte kursierten, wurde nun endlich gelüftet. Nach ihrem Erfinder „Daguerreotypien“ benannt, gaben die kleinformatigen Aufnahmen auf versilberten Kupferplatten die Natur in einer beispiellosen Detailtreue wieder. Die ersten Fotografien offenbarten eine neue Wahrheit und erschienen dem verblüfften Publikum als kleine Wunder.

Gerahmte Daguerrotypien auf zwei Regalborden übereinander. Ausstellungsansicht. Foto: © Kunstsammlung Jena
Ausstellungsansicht. Foto: © Kunstsammlung Jena

Plötzlich war es jedem möglich, mit der notwendigen Ausstattung selbst derartige Bilder anzufertigen. Detaillierte Beschreibungen des Verfahrens wurden parallel in viele Sprachen übersetzt und verbreiteten sich, tausendfach gedruckt, über Frankreichs Nachbarländer hinaus schnell in die ganze Welt. Der Siegeszug der Fotografie hatte begonnen – und mit ihm ein radikaler Wandel der gesamten Bildkultur.

Die Ausstellung in der Kunstsammlung Jena erzählt mit über 250 Exponaten aus einer bemerkenswerten Privatsammlung von der Frühzeit des neuen Mediums. Dabei rücken nicht nur zahlreiche Daguerreotypien ins Zentrum, die durch ihre silbrig glänzenden Oberflächen heute wie magische und geheimnisvolle Erscheinungen aus der Vergangenheit anmuten. Mit seltenen Objekten und historischen Dokumenten werden gleichermaßen die kultur- und kunsthistorischen Zusammenhänge der Erfindungsgeschichte thematisiert, in der sich technische und ästhetische Qualitäten auf einzigartige Weise verweben. Das schließt Geräte und Bilder aus der Vorgeschichte mit ein. Zum Beispiel die Camera Obscura, die schon im 17. Jahrhundert oftmals Verwendung fand, wenn Maler eine Ansicht perspektivisch möglichst realitätsnah erfassen wollten. Die Sehnsucht nach neuen Bildern in einer Zeit des sich emanzipierenden Bürgertums dokumentieren optische Spielereien und Illusionen: Guckkastenbilder, Augsburger Perspektiven, Kaleidoskop und Zograskop, oder die, ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Mode der Silhouetten und Physionotrace-Porträts.

Negretti & Zambra, Graphoskop, London, um 1855 © Collection H.G
Negretti & Zambra, Graphoskop, London, um 1855 © Collection H.G

Das Einfrieren des Vergänglichen für die Ewigkeit in einem „wahrheitsgetreuen“ fotografischen Bild – Daguerre schaffte dies nicht als einziger, doch brachte er sein Verfahren zu einer kommerziellen Nutzbarkeit. Kaum war es der Welt zugänglich, etablierten sich in den 1840er Jahren erste Studios in den Städten Europas und Amerikas, während Wander-Daguerreotypisten übers Land zogen. Dabei beschränkten in der ersten Phase der Foto-Geschichte die technischen Bedingungen die Möglichkeiten, die besonders ersehnten Porträts zu machen. Die anfänglich minutenlangen Belichtungszeiten erforderten eine ebenso lange Regungslosigkeit und waren damit kaum praktikabel. Doch die Verbesserung der Objektive und der notwendigen Chemie erfolgten in ungeahntem Tempo und das individuelle Porträt wurde nun allerorten zum „objet désiré“. Prächtige Rahmungen und Etuis aus Samt oder Leder zeugen von der Wertschätzung, die diese frühen Lichtbilder erfuhren. Gleichzeitig dokumentieren zeitgenössische Karikaturen, wie die Fotografie in der Gesellschaft wahrgenommen wurde und diese folgenreich zu prägen begann.

Selbstbewusst traten Fotografen nicht nur in Konkurrenz zu den Porträtmalern, sie erschlossen sich zunehmend auch neue Themenfelder. Stimuliert vom beginnenden Massentourismus nahm beispielsweise die Reisefotografie einen hohen Stellenwert ein. Ansichten antiker Monumente in Italien, Griechenland oder Ägypten konnten von nun an mit nach Hause gebracht, aufmerksam studiert und weiterverbreitet werden.

Platt D. Babbitt, Niagara-Fälle, um 1853, Daguerreotypie © Collection H.G
Platt D. Babbitt, Niagara-Fälle, um 1853, Daguerreotypie © Collection H.G

Analog erhielt das traditionsreiche Genre der Aktdarstellung neue Impulse. Aufwändig inszenierte und kolorierte Stereo-Daguerreotypien veranschaulichen, wie die Fotografen zwar an die Darstellungskonventionen des nackten, meist weiblichen Körpers anzuknüpfen suchten. Stellten die in Malerei und Architektur erscheinenden Akte stets „Göttinnen“ oder „Nymphen“ dar, hatte der moralisch strenge Zensor meistens ein Einsehen. Doch nun war unmittelbar ersichtlich, dass es sich bei den Abgebildeten um echte Körper aus Fleisch und Blut handelte. Die Stereofotografie, die die Illusion räumlichen Sehens beschwört, betonte die Bedeutung dieses neuen Realismus eindrucksvoll und ließ die Zensurbehörden aktiv werden.

Bruno Braquehais, Odaliske, Paris um 1855, kolorierte Stereo-Daguerreotypie © Collection H.G
Bruno Braquehais, Odaliske, Paris um 1855, kolorierte Stereo-Daguerreotypie © Collection H.G

Die vielgestaltige Geschichte vom Siegeszug der Fotografie begleitet die Ausstellung bis hinein in die 1870er Jahre, wenn zum Beispiel von Armut geprägte Szenen aus den Straßen Londons in den Blick des Fotografen John Thomson geraten oder die berühmten Porträts der kulturellen Elite Frankreichs zu Sammelobjekten in der „Galerie contemporaine“ werden.

John Thomson, Nomaden, 1876, Woodburytypie © Collection H.G
John Thomson, Nomaden, 1876, Woodburytypie © Collection H.G

Die Erfindung der Fotografie hatte eine nachdrückliche Erweiterung der Sichtachse bewirkt, eine Umwälzung der gesamten, sich vorher lange kaum verändernden Bildmedien, die bis in die heutige Zeit des rasanten Bildkonsums fortwirkt. Ab Daguerres Erfindung standen Bilder nicht mehr nur einer privilegierten Schicht zur Verfügung, sondern wurden nach und nach zum Massenprodukt und zum untrennbaren Teil der Alltagskultur.

Unbekannter Daguerreotypist, Gruppe junger Männer, um 1845, Daguerreotypie © Collection H.G
Unbekannter Daguerreotypist, Gruppe junger Männer, um 1845, Daguerreotypie © Collection H.G

Die Daten​

Laufzeit: 16. Juli bis 31. Oktober 2022
Ort: Kunstsammlung Jena, Markt 7, D-07743 Jena
Tel.: +49 3641 49-8261
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 – 17 Uhr (Montags geschlossen)
Eintritt: 8 €, ermäßigt 5 €, bis 18 Jahre frei

Katalog zur Ausstellung im Museum Georg Schäfer, Schweinfurt; Kunstmuseum Ahlen und Kunstsammlung Jena 2021/22
Die gebundene Ausgabe erschien am 20.09.2021 im Verlag Wienand. 240 Seiten, 29,4 x 22,8 x 2,6 cm, 1.581 g, deutsch und englisch.
ISBN: 978-3-86832-631-4
Preis: 33,00 €
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Bildnachweis: wie angegeben
 
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