Moin,
fangen wir positiv an: die Bilder #7 und #8 zeigen genau den Verlauf von Schärfe zu Unschärfe, den ich auch gewählt hätte. Ein beliebter Fehler ist, das Motiv komplett von der Umgebung zu isolieren. Das wurde hier vermieden, die Linie der Gleise hin zum Fluchtpunkt bleibt komplett erkennbar, der Fokus bleibt aber auf dem eigentlichen Motiv. So soll es sein, und darin unterscheiden sich #7 und #8 vom Bild #4. Bei Letzterem ist deutlich zu erkennen: zu viele Details lenken vom Motiv ab.
technische Kritik: #1, #2, #3 und #6 sind unscharf. Augenbrauen? Wimpern? Selbst die Fransen an der Büx ... technisch nicht OK. Solche Ausrutscher passieren, der AF klemmt sich an einem anderen Detail fest, und der Fokus liegt nicht mehr da, wo er hingehört. Jeder Photograph, jede Kamera produziert Ausschuss, aber die meisten Photographen zeigen den dann nicht herum (ja, die Ohrfeige darf sein, denn die Bilder #5, #7 und #8 zeigen, dass du durchaus technisch gute Aufnahmen gemacht hast).
Ein weiterer Punkt, den du jetzt gelernt hast: Sonnenlicht ist eine Katastrophe bei Portraitaufnahmen. Sehen wir uns Mal die Aufnahmen #5 und #6 an, so erkennen wir ganz deutlich, was direktes Sonnenlicht mit einem Gesicht macht. Weder der harte Nasenschatten, noch die zugekniffenen Augen mit den duch den Schatten betonten Tränensäcken schmeicheln dem Gesicht. Um wieviel entspannter ist da der Ausdruck im Bild #5 - weiches, indirektes Licht, entspannte Gesichtszüge .... so geht das. Merken!
Modeln ist wirklich nicht einfach, und 99% der Mennschen fällt es extrem schwer, "mal eben eine coole Pose einzunehmen" Modeln ist ein Ding für sich und selbst bekannte Schauspieler haben oft Bammel vor den "Stills", vor Aufnahmen in einer unbewegten Pose. Hinzu kommt, dass man das Model entweder von der Umgebung komplett isoliert oder Model und Umgebung zusammenbringt.
Ersteres bedeutes zB ein Fashion-Shoot in heruntergekommener Umgebung (der Meister dieser Disziplin ist/war Peter Lindbergh). Das Model hebt sich durch Klamotte, Pose und (arroganten) Gesichtsausdruck komplett von der verfallenden Betonwüste in der Umgebung ab. Ikonisch sicherlich die Aufnahme eines jungen Paares in hipper Abendgarderobe, das wohl eben einem verunfallten Rolls-Royce im Hintergrund entstiegen ist, darüber fliegt irgendwo ein Hubschrauber, die Szenerie sieht nach Bürgerkrieg aus.
Im Fall deiner Bilder trifft der Zweite Fall zu; es scheint eine sinnliche Nähe zwischen dem Model und dem Graffitti (#3) und - schlimmer noch - dem Model und dem Kanalrohr (#5) zu geben. Das muss ich nicht verstehen, das WILL ich auch nicht verstehen! Mit der Pose auf den Schienen kann das Model hingegen wenig anfangen - ihr Haltung, ihr Gesichtsausdruck und die konsequente Vermeidung von Blickkontakt lassen mich denken, das Model könnte auch vor einer Phototapete sitzen - das macht dann auch keinen Unterschied mehr.
Was hätte ich also versucht anders zu machen? Hätte, hätte, Fahrradkette - ich weiss ... #1 würde gewinnen, wenn man den Fokus richtig legt und #5 könnte weniger Schärfentiefe vertragen, die Füsse würde ich hingegen nicht amputieren wollen und allgemein waren die Chucks die deutlich bessere Wahl, denn die halbhohen Nietenstiefel sind etwas unproportioniert und passen auch nicht so recht zu Sommer, Shorts, Tank-Top (und Kittelschürze ...). Ugg-Boots wurden ja mal erfunden, damit man auch im Winter erkennen kann, welche Frau ein Arschgeweih trägt. Am meisten hätte ich mich vermutlich auch an/zwischen den Gleisen herumgetrieben, mir (und dem Model) aber die Frage gestellt:"Warum bist du hier? Was erzählen Gleise?"
Darauf balancieren, Aufnahme von hinten mit Blick zurück über die Schulter, Aufnahme auf den Gleisen sitzend, wie ein Sportler nach dem Wettkampf, hängender Kopf, nur leicht zum Blick erhoben ...
Es gibt Bücher, die sich mit funktionierenden (und NICHT-funktionierenden) Posen auseinandersetzen. Die heissen dann irgendwie "1000 Posen Modelphotographie" oder so ähnlich. Es lohnt den 20er auszugeben, wenn du in Zukunft weiter solche Aufnahmen machen willst. Denn gerade im Umgang mit unerfahrenen Amateuren ist es wichtig, dass der Photograph eine Vorstellung davon hat, wie die Bilder aussehen und was sie ausdrücken sollen.