Bach am Bach ...

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In den Tälern gab es oder gibt auch heute fast keine Auswahl an Betätigungsmöglichkeiten. Obwohl hier einige Schriftsteller gross geworden sind, gibt es ausser Landwirtschaft kaum etwas, was sich zum Überleben lohnt. Die Landwirtschaft wäre ohne Subventionen längst ausgestorben. Und vom Tourismus alleine kann man nicht leben. Man muss ein Stück weit verrückt sein, um hier ein Ferienhaus zu mieten.



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Bach hatte, wie viele andere Komponisten auch, nicht viel Auswahl. Und so blieb er. So einfach war es nicht, auch als herausragender Komponist und Musiker, die Stelle zu wechseln. Die Konkurrenz war gross und sein eigener Anspruch an sich selbst und sein Temperament waren für ihn selbst nicht immer sehr förderlich. Wenn die eigene Welt in Tönen einen Metapher findet, dann ist das nicht jedermanns Sache und oft schwer nachvollziehbar. In der Fotografie ist es dasselbe, in der Malerei auch.



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Die Menschen hier in den Tälern hatten wenig Gelegenheit, sich den Metaphern zu widmen. Vielleicht waren sie froh, hatten sie so klare Vorgaben. Ob sie richtig waren spielt weniger eine Rolle. Aber sie waren anders. Der Herrgott musste nicht spürbar sein, aber anwesend. Und ob man am Schluss das lateinische Gerede vom Dorfpfarrer verstand, war weniger wichtig. Vielleicht bot die Kirche die einzige Möglichkeit, sich dem Alltag etwas zu entziehen und sich in eine andere Welt zu verziehen. Das immer gleiche Ritual unterbrach die Not für wenige Stunden. Nicht dass man all den Erklärungen glaubte, aber sie halfen über das eigene Leid hinweg. Christus hat sich der Menschheit schon lange geopfert, einen neuen gibt es nicht. Kein neuer stürzt sich vom Felsen für mich selbst, oder mein Kind. Ich muss mir das alles selbst vorstellen und glauben. Wenn es dann tatsächlich geschehen ist, bleibt mir alleine der Glaube der einzige Trost. Es gibt keinen Christus im Tessin, Kreuze schon. Der aktuellen Welt kann man sich nicht entziehen. Die Vergangenheit steht frei zur Wahl, sie zu interpretieren.



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Bachs Messe ist abschliessend sein tiefes Glaubensbekenntnis. Aber es geht darüber hinaus. Weit darüber hinaus. Es gibt kein fröhliches Erbarmen. Am Kreuze hängen, stelle ich mir nicht lustig vor. „Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten“.



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Der Mensch «Bach» nehme ich in der Messe wahr. Vielleicht hat er gespürt, dass es wohl keine Rolle spielt, Katholik oder Protestant zu sein. Am Schluss war auch ihm, wie jedem anderen Menschen, sein Hemd näher als seine Hose. Vielleicht hat er gespürt, dass jeder Mensch gleich ist, unabhängig davon was er macht, wo er lebt und an was er glaubt. Und so beschliesst er auch das Credo mit einem Amen. Mit einem Adieu und einer Begrüssung. Fulminant und eindringlich.



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Die Auferstehung. Et expecto. Leise beginnt Bach diese Phrase um in ein gewaltiges Stimmenfeuerwerk überzugehen. Fast eine Fanfare. Als ich es das erste Mal hörte, erstarrte ich. Selten habe ich in so wenigen Minuten eine solche musikalische Wucht gehört. Es hört sich nicht wie ein Wunsch an, nicht wie eine Erwartung. Es hört sich mehr an als ein Befehl: „Mach endlich vorwärts, ich bin ungeduldig“. Kein langes und schönes Anhalten am Schluss, keine langen Takte der Stimmen. Am Schluss ein kurzes, knappes Amen, wuchtig und eindringlich. Ich habe nach diesem kurzen Stück oft die Pause auf dem Player gedrückt, weil ich mich zuerst wieder davon erholen musste. Der Text tönt lieblich, die Musik stellt sich ihm wie in keinem anderen Stück in unglaublichem Kontrast entgegen.



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Wenn sich die Gegenwart meinem Willen entzieht, dann wende ich mich der Vergangenheit zu. Nur die Vergangenheit hat mich geprägt. Die Vergangenheit ist Schicksal, unumgänglich hat sie mich geprägt und steht da für meine eigene Unzulänglichkeit. Und auch die Zukunft nehme ich als gegenwartsfremde Welt, vollgespickt mit Hoffnung und Träumereien. Die Zukunft ist Illusion. Bach erwidert in unglaublicher Eindringlichkeit musikalisch die liebliche Form der Erwartung der Auferstehung. Fast im Befehlston, im wahrsten Sinne des Wortes, fordert er sie ein: die Auferstehung, wohl nicht nur der Toten, sondern von Christus. Aber vielleicht meinte er musikalisch auch die eigene Auferstehung. Der Wunsch nach Auferstehung ist ja auch ein Stück weit der Glaube oder die Hoffnung an das eigene, ewige Leben. Die Textur und die Musik stehen hier in unglaublichem Gegensatz.



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Sanctus. Kurz und bündig. Feierlich mit Chor und Solostimmen. „Osanna in der Höhe“. Bach wusste wohl sehr gut, dass es sein letztes grosses Werk sein würde. Das Leben hat in genau so geprägt wie das bei jedem anderen Menschen so ist. Gerne hätte ich mit ihm ein Gespräch geführt, abseits der Noten und seiner Werke und deren Interpretationen. Bachs Intensionen kann man nicht kopieren nur deuten. Darin unterscheidet er sich in nichts durch andere Menschen.



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Der Stress hier in den Nordtälern, früher, ist einfühlbar, aber nicht fühlbar. Man muss sich dem eigenen Erlebten zuwenden, um nur am Rande eine Ahnung davon zu haben, wie es sich hier gelebt hat. Das Viehhüten war ja nicht nur anstrengend sondern auch langweilig. Aber schlafen konnte man trotzdem nicht. Jedes Tier war kostbar und entschied letztlich über das Leben im Winter. Bach lebte auch von seinen Kompositionen. Der Auftrag, neue Kantaten zu schreiben, die Chorknaben zu unterrichten, war in seinem Anstellungsvertrag festgehalten. Hätte er einen Sponsor gefunden, welche ihm und seiner Familie den Lebensunterhalt bezahlt hätte und er hätte frei komponieren können, wären wohl noch andere Werke hinzugekommen. Nun, die Zeit war nicht so.



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Die Zeit war auch hier nicht so. Keine Maschinen, nur Tiere. Alp auf Alp ab. Hier kannte keiner Bachs Musik. Hier gab es kaum Instrumente, man hatte keine Zeit dafür. Gesungen wurde in der Kirche und vielleicht gab es ein paar Tessinerlieder, welche man in der Schule lernte. Zu Bachs Zeiten gab es die Schulpflicht noch nicht. Und bis sie sich durchsetzte, auch hier in den Tälern, reden wir vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Bildung und Kultur ist noch heute Luxus für viele, obwohl sie vielleicht die einzigen Schlüssel für das gegenseitige Verständnis wären.



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Mich hat das Flehen, die Wünsche und die Hoffnungen in Bachs Messe immer wieder irritiert. Flehen und Wünschen sind ja nicht neu, sondern haben sich über Jahrtausende des menschlichen Daseins Aufrecht erhalten. Und eigenartiger Weise hat jede Kultur ihr eigenes Bild und eigene Worte für die Hoffnung geschaffen. Und wenn ich die Geschichte betrachte, dann kann ich durchaus Verständnis dafür entwickeln.



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Sind wir hier, um permanent der Hoffnung zu frönen? Sind wir so unfähig, dass wir ständig Hoffnung haben müssen? Ein Gedanke, welche mich in der Messe, vor allem musikalisch umrissen von Bach, sehr umtreibt. Musik und Text passen manchmal, aber manchmal auch nicht. Trauer und Hoffnung, Erbarmen und Insistieren geben sich die Hand. Gegensätze, die manchmal schier nicht auszuhalten sind.



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Sanctus, oder die Heiligsprechung. Ein Begriff, mit dem ich mich schwer tue. Ich tue mich schwer mit der Heiligsprechung von Menschen und den engelschen Heerscharen. Furchtbar der Gedanke, mich nur an den Nominierten zu orientieren, den Blick für die unbeachteten «Alltagsheiligen» zu verlieren. Vielleicht fordert uns Bach auf, dieses Bild zu korrigieren. Vielleicht wünsche ich mir das einfach, ist eine Interpretation von mir, Jahrhunderte später. Ich kann ihn nicht danach fragen. Die Gegensätze in seiner Messe lassen in mir aber solche Gedanken aufkommen.



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Zum Schluss das Agnus Die. Das „Dona nobis Pacem“. Frieden. Es gab wohl kein Mensch in dieser Zeit, welche die Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht zu spüren bekam. Dies gilt für Mozart genau so wie für Beethoven. Es gehörte zum Leben, wie das Aufstehen am Morgen und das Zubettgehen am Abend.



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Bach ruf nach dem Frieden wirkt musikalisch leise aber eindringlich. Als ob er den Frieden nicht nur ausserhalb seiner Person suchen würde, sondern sich zuletzt auch seinen eigenen Frieden gönnt. Frieden ist ein schwieriges Wort. Frieden kann bedeuten, dass man sich und die andern leben lässt, auch wenn sich die Lebensweisen unterscheiden. Frieden, liturgisch gesehen, bedeutet wohl die uneingeschränkte Harmonie zwischen den Menschen. Daran wurde wohl zu keiner Zeit herzhaft gearbeitet. Man hat es in Wünsche und Gebete einfliessen lassen um sich bis heute der eigenen Verantwortung zu entziehen. Aber vielleicht kann der Mensch das einfach nicht. So lapidar das klingen mag, erklärbar ist es ja ohnehin nicht. Und all die Klagen und Gebete haben an dem nichts verändert.



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Bach hat mit seiner H-Moll Messe sein Leben abgeschlossen. Voller Rätsel und Fragen. Es ist und bleibt ein Kunstwerk, welches wir wohl nie bis ins Detail verstehen werden. Und vielleicht ist das eine Aufgabe an uns: etwas zu schätzen, auch wenn wir es nicht eindeutig erklären können.



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Hinter dieser Messe steht Bach als Mensch. Als Mensch mit seiner Geschichte, seiner Prägung, seiner unglaublichen Begabung mit Tönen umzugehen. Aber Bach spricht auch über seine Unzulänglichkeiten, über das, was er zu Lebzeiten nicht vermochte. Er spricht, wie immer mit seiner Musik. Und gerade das macht dieses Werk so unheimlich greifbar, intim und menschlich.



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