Wenn Skepsis in Begeisterung umschlägt
Schon lange kann man mit DSLRs und DSLMs nicht nur tolle Fotos aufnehmen, sondern auch wirklich erstklassige Filme produzieren. Lange Zeit habe ich das Filmen aber nicht sonderlich beachtet, da es für mich eine ganz andere Welt war und ich viele Techniken und Begrifflichkeiten gar nicht kannte. Vor kurzem hat mich dann doch der Ehrgeiz gepackt und ich hatte eine interessante Idee, um einen Film aufzunehmen. Ich wusste aber ehrlich gesagt nicht so recht, wie ich beginnen sollte. Ich hatte mir schon einige YouTube-Videos zum Thema angeschaut, aber es fehlte mir die übergreifende Systematik. An dieser Stelle traf es sich dann besonders gut, dass sich die Gelegenheit bot, das Buch Digital filmen von Jörg Jovy aus dem Rheinwerk Verlag zu rezensieren.
Geradeheraus gesagt, bin ich nicht unbedingt ein Freund von »dicken Schwarten«, so wie es dieses Buch mit seinen 684 Seiten ist. Dazu fehlt mir meist die Zeit und auch die Geduld. Auf der anderen Seite: wenn ich etwas Neues beginnen will, dann mache ich es richtig und dazu gehört nun mal ein gutes (und umfangreiches) Handbuch. Ich kenne den Rheinwerkverlag für seine wirklich kompetenten Autoren und die insgesamt überzeugende Machart.
Als ich das Buch aufschlug, war ich jedoch im ersten Moment vom Inhaltsverzeichnis etwas enttäuscht. Dort tauchten nach meiner persönlichen Ansicht nach zu viele »Ein-Wort-Überschriften« auf, die zwar knackig kurz sind aber kaum Inhalt preisgeben und das sollte in einem Inhaltsverzeichnis eigentlich nicht so sein. Oder könntest du mit Überschriften wie z.B. Bild, Grafik, Fiktion, Alternativen etc. viel anfangen? Zum Glück sind nicht alle Überschiften so kurz, aber doch etliche. Eine grobe Orientierung ist aber doch möglich und so pickte ich mir zuerst die Themen heraus, die mich am meisten interessierten, wie z.B. das Kapitel 8 »Filmen mit der Systemkamera«. Dort fand ich prägnant die Informationen, wie eine Systemkamera zum Filmen ausgerüstet sein sollte.
Sehr gut finde ich den Ansatz, dass der Inhalt des gesamten Buches nicht auf bestimmte Modelle bzw. Geräte/Software festgelegt ist, sondern neben Systemkameras vom Smartphone bis hin zur professionellen Filmkamera alles miteinschließt. Es geht eben um das weite Thema Filmen und nicht um bestimmte Ausrüstungen.
Ein hervorstechendes Feature vieler Rheinwerkbücher ist die Praxisausrichtung und auch in diesem Buch wird man diesbezüglich nicht enttäuscht. Man erkennt beim Lesen sehr schnell, dass der Inhalt von einem Profi geschrieben wurde, der das Filmen nicht theoretisch und nach Lehrbuch abhandelt, sondern sehr viel Praxiserfahrung mit ins Buch einfließen lässt und es versteht die Abläufe verständlich und ohne unnötigen Ballast »auf den Punkt« zu erklären. Das hat auch unter anderem dazu geführt, dass ich häufig nur etwas schnell nachschlagen wollte und mich dann »festgelesen« habe und das gesamte Thema durcharbeitete. Im besagten Kapitel 8 fand ich z.B. den Abschnitt »Gimbal kalibrieren und ausbalancieren«, den ich sofort komplett durchgelesen habe. Ich glaube, viel mehr kann man von einem gute Sachbuch nicht erwarten.
Für meine Belange war es auch ideal, den gesamten Prozess der Videoproduktion in einem Buch vor mir zu haben. So werden z.B. viele relevante rechtliche Fragen angesprochen. Selbst beim eher abstrakten Abschnitt Musikvideo, in dem das Thema Rechteverwertung der GEMA behandelt wird, habe ich den Abschnitt sofort und komplett gelesen. Ganz besonders in diesem Bereich sind Tipps aus der Praxis Gold wert. Wer sich schon einmal mit dem Formularwust der GEMA beschäftigt hat, weiß wovon ich spreche.
Vielleicht an dieser Stelle eine kleine systematische Übersicht über den Inhalt des Buches. Der Inhalt ist in vier generelle Bereiche aufgeteilt:
- Planung
- Aufnahme
- Schnitt
- Präsentation
- Grundlagen der Ein-Mann-Videoproduktion
- Kameratechnik und Ausrüstung, Aufnahmeformate und Codecs
- Einstellungsgrößen, Ausschnitte und Perspektiven
- Zoom- und Schwenktechniken, Kamerafahrten
- Filmen mit Drohnen, Actioncams & Co.
- Von der Idee zum Film: Drehbuch und Storytelling, Drehvorbereitung und -durchführung
- Filmische Bildgestaltung: Licht und Schatten, Farbe, 180-Grad-Regel, bewusster Achsensprung
- Master-Scene-Verfahren, Stop & Go, Establishing Shot
- Die Kunst des Filmschnitts
- Footage sondieren, mit Schnittsystemen arbeiten
- Montagetechniken und Effekte
- Bild- und Tonkorrektur
- Veröffentlichung auf YouTube und Co.
- Filmprojekte verwalten und archivieren
Sehr entgegen kam mir auch die Beschreibung der allermeisten Filmarbeiten als Ein-Mann-Videoproduktion. Ich glaube, sehr viele Leser werden zuerst allein filmen und nicht mit einem kompletten Team. Ebenso angenehm ist die Bodenständigkeit der Darstellung, wie etwa dieses nette Zitat:
»… Auch wenn solche Probleme vielleicht nicht so dramatische Auswirkungen haben: Seien Sie auch nett zu zwangsverpflichteten Mitarbeitern und Darstellern aus dem Familien- und Bekanntenkreis. Der Film über Venedig mit muffigen Kindern in der Gondel, in der Martinskirche, beim Mittagessen, im Vaporetto oder beim Glasblasen ist am Ende ein Film über muffige Kinder und eben nicht über Venedig.«
Man kann das Buch tatsächlich von vorn bis hinten durcharbeiten, um eine sehr gute Grundlage für das Thema aufzubauen. Darüber hinaus taugt es ausgezeichnet dazu, immer mal wieder eine Frage nachzuschlagen und Wissen aufzufrischen.
Wenn man noch kleine Kritikpunkte heraussuchen wollte, könnte man die manchmal etwas arg kleinen und dadurch unübersichtlichen Abbildungen anführen.
Abbildung 8.13 auf Seite 205: Kabelklemme zur Sicherung eines Micro-HDMI-Steckers
Alles klar?
Das Buch selbst beinhaltet auch Workshops, die das vermittelte Wissen vertiefen und festigen können. Auf der Webseite zum Buch findet sich unter dem Register »Materialien« umfangreiches Übungsmaterial:
- Lehrfilme
- Übungsfilme
- Projektmaterial I
- Projektmaterial II
- Zusatzmaterial
Zugegeben war ich zu Anfang etwas skeptisch gegenüber diesem sehr umfangreichem Buch. Im Nachhinein bin ich aber begeistert und kann das Buch rund um empfehlen. Der Preis von € 39,90 ist mehr als gerechtfertigt für den Gegenwert, den der Leser erhält. Dafür alle fünf Sterne.
Die Daten
Jörg Jovy. Digital filmen. Das umfassende Handbuch erschien am 30. September 2021 im Rheinwerk Verlag. 671 Seiten, gebunden, in stabiler Fadenheftung. Handbuchformat 17,5 x 24 cm, mit Lesebändchen. In Farbe gedruckt auf matt gestrichenem Bilderdruckpapier (115 g). Gut lesbare serifenlose Schrift (Linotype Syntax 9,25 Pt.). Einspaltiges Layout mit Marginaleinträgen. Mit vielen Schritt-Anleitungen und Infokästen. Auch als E-Book im PDF-Format (75 MB) und als Onlinebuch erhältlich.ISBN 978-3-8362-8569-8
Preis: 39,90 €
Hier geht es zur Leseprobe (PDF)
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Rezension: Lothar Schloemer
Bewertung
© Lothar Schloemer und Netzwerk Fotografie. Jedwede Art der Veröffentlichung, auch auszugsweise, bedarf der Genehmigung. Text: Lothar Schloemer, Bildnachweis: © Rheinwerk Verlag