Empfehlung Leben und Arbeiten auf einer Kakaofarm im brasilianischen Bahia

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Leben und Arbeiten auf einer Kakaofarm im brasilianischen Bahia

von Jochen Weber

Unser Community-Mitglied Jochen2 (Jochen Weber) nimmt uns mit auf eine fantastische Reise. Folgt uns mit diesem Snippet nach Bahia auf die Kakaofarm „Boa Sentença“, lernt Osmundo und Dona Elaine kennen und erfahrt mehr über die Arbeit auf den Kakaofeldern.

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Im brasilianischen Bundesstaat Bahia wird seitdem späten 17. Jahrhundert Kakao ange-baut. Ab 1989 brach dort aber die Kakaoproduktion unerwartet ein, als die Kakaoplanta-gen massiv vom aggressiven Pilz-Schädling mit dem Namen „Hexenbesen“ (vassoura-de-bruxa) befallen wurden. Aber heute spielt der Kakaoanbau in Brasilien wieder eine wichtige Rolle und Bahia ist wieder ein wichtiger Kakaoproduzent. Aus diesem Grund widmete das Goethe-Institut dem Thema Kakao 2011/12 ein Großprojekt mit dem Titel „Metamorphosen des Kakao“. Denn der Kakao macht nicht nur bei seiner eigenen Verwandlung von der Pflanze zum Produkt eine Metamorphose durch, auch hat er den Bundesstaat Bahia und seine Menschen im Laufe der Jahre erheblich verändert. Im Rahmen dieses Projekts engagierte mich das Goethe-Institut in Salvador de Bahia für eine Fotoreportage. Also besuchte ich die Kakaofarm „Boa Sentença“ (Gutes Urteil) in der Nähe der Stadt Itabuna, mitten im Herzen des Kakao-Anbaugebiets in Bahia.

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Joselito

Ich kam an einem Sonntagvormittag auf der Farm an. Außer dem Hausangestellten Joselito, der mir ein kleines Zimmer in einem kleinen Nebengebäude zuwies, arbeitete an diesem Tag niemand auf der Farm. Da es ein schöner, wolkenfreier Tag war, ging ich für einen ersten Erkundungsgang mit der Kamera tief in die Kakaoplantage hinein. Bei schönstem Sonnenschein bei 35° Celsius, mit leichtem T-Shirt bekleidet und der Kamera in der Hand, wurde ich dennoch und urplötzlich von einem tropischen Wolkenbruch überrascht! Innerhalb kürzester Zeit zog alles zu, es fing in Minutenschnelle an zu regnen und ich musste mir sehr schnell etwas einfallen lassen, denn einen solchen tropischen Wolkenbruch verträgt keine Digitalkamera auf Dauer ungeschützt! Ich schaffte es mit aller Kraft, einem Bananenbaum ein großes und intaktes Blatt zu entreißen und hielt es über die Kamera, aber das war noch nicht ausreichend, denn das Wasser lief schnell überall herunter. Ich kniete nieder, beugte noch zusätzlich meinen Oberkörper über Kamera und Bananenblatt, was dann half, die Kamera einigermaßen trocken zu halten, es musste ein erbarmungswürdiger Anblick gewesen sein!

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Tropischer Regenschauer

Als der Regen nach ca.20 Minuten nachließ, lief ich mit der Kamera in der linken und dem Bananenblatt darüber in der rechten Hand, zurück zur Farm. Natürlich wurde ich bei meiner „Rettungsaktion“ beobachtet und die Geschichte sprach sich herum wie ein Lauffeuer, wie es in Brasilien eigentlich immer der Fall ist. Der Tenor war: „O alemão“ (Der Deutsche) weiß sich zu helfen, das ist kein Jammerlappen! Und das zählt dort etwas. Und dass ich auch noch herzhaft über mich und diese Geschichte lachen konnte, kam auch gut an, und das erleichterte mir später den Kontakt mit den Leuten auf der Farm enorm.

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Bolzplatz

In der Mitte der Farm befinden sich die Farmgebäude, und zwar sowohl die Wohn- als auch die Nutzgebäude. Um das zentrale „Haupthaus“ des Farmbesitzers herum wohnt ein Großteil der ca. 80 auf der Farm beschäftigten Arbeiter in kleineren Häuschen. Auf deren Dächern befinden sich die „Barkassen“ (barcaças), auf denen der Kakao während der Erntezeit ausgebreitet und in der Sonne getrocknet wird. Dazu lassen sich die Dächer auf Schienen komplett zurück schieben. Über Nacht und wenn es regnet, ziehen die Leute die Dächer kurzerhand zu, sodass die trocknenden Kakaobohnen nicht wieder nass werden. Neben den Wohnhäusern mit den „Barkassen“ befinden sich auf dem Farmkomplex noch weitere Gebäude: das Fermentationshaus und das Lagerhaus, außerdem gibt es auf der Farm eine eigene kleine Kirche, eine eigene (Grund-)Schule, sowie einen erstaunlich gut gepflegten Bolzplatz. Sie sind nicht umsonst fünffacher Weltmeister; aber das 7:1 sitzt tief!

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Die vier Vorarbeiter

Eine Kakaofarm zu bewirtschaften, bedeutet nicht nur viel Arbeit, sondern auch eine Differenzierung der Arbeit in verschiedene Tätigkeitsfelder. Die Farm ist in vier Sektoren eingeteilt und hat entsprechend vier Vorarbeiter, die sich die Verantwortung für den Betrieb aufteilen. So ist jeder der vier für einen Sektor der Farm verantwortlich, der aus zehn Kakaofeldern besteht, sowie für ein Viertel der Arbeiter. Einer der wichtigsten Berufe auf einer Kakaofarm ist der des „Barcaçeiros“, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Er ist verantwortlich für die Fermentation und die Trocknung der geernteten Kakaobohnen. Ein weiterer, eigener Beruf ist der „Tropeiro“, derm Maultiertreiber, das Wort „tropa“ bezeichnet eine Maultierherde.

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Tropeiro

Dieser „Tropeiro“ ist aber nicht nur zuständig für die Pflege der Maultierherde, sondern auch für den Transport der frisch geernteten Kakaosamen vom Feld bis zum Fermentati-onshaus auf der Farm. Die Mehrzahl der Arbeiter widmet sich den Tätigkeiten, die nach Saison und den gegebenen Notwendigkeiten anfallen. In der Haupterntezeit in den Monaten September und Oktober sind sie hauptsächlich mit der Ernte beschäftigt.

Die Kakaoernte teilt sich dabei in zwei Tätigkeiten. Zunächst werden die Kakaofrüchte mit einem sehr scharfen Messer an einem langen Stiel vom Stamm geschnitten und später aufgesammelt. Die Kakaosamen werden dann aus den Früchten geholt. Nach ein paar Tagen der Begleitung der Arbeiter bei ihren Tätigkeiten in den Kakaofeldern fiel mir auf, dass so gut wie immer ein Hund dabei war. Darauf angesprochen, antwortete einer von ihnen, dass von den Arbeitern der Farm fast jeder einen Hund als treuen Begleiter besitze, aber es sei gar nicht erlaubt, die Hunde zur Arbeit ins Feld mitzunehmen.

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Hund

Die Arbeiter haben, vor allem in der Nebensaison von Januar bis Juli, viel mit der Pflege und Wartung der Felder und Bäume zu tun. Allein für die Pflege der in erster Linie noch jungen Kakaobäume gibt es sehr unterschiedliche Tätigkeiten, die regelmäßig durchge-führt werden müssen. Neben der Pflanzung von Kakaosetzlingen gibt es verschiedene Techniken zur Unterstützung des Wachstums der jungen Pflanzen. Zur Verbesserung der Qualität und der Produktionsmenge werden regelmäßig drei verschiedene Maßnahmen ergriffen:

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Osmundo beim Pfropfen

• Das Pfropfen ist eine Pflanzenveredelung, bei der ein junger, gesunder Trieb/Ast (Edel-reis) auf eine Unterlage (Baumstumpf) gesteckt, d.h. gepfropft wird.

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Wurzelinduktion

• Bei der Wurzelinduktion wird ein schwächlicher Baum in Bodennähe mit einem Stück eines Bananenbaumes unterstützt, in wenigen Wochen verwächst dann das neue Stück mit dem alten Baum und bildet zusätzliche Wurzeln, die den Baum stärken.

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Künstliche Bestäubung

• Die Bestäubung der Blüten erfolgt nicht durch Bienen, sondern durch kleine, für das bloße Auge unsichtbare Mücken. Die Blüten werden aber zusätzlich künstlich bestäubt, um die Produktivität der Bäume zu erhöhen.
Sehr gerne habe ich auch der Grundschule ein paar Besuche abgestattet. Die Freundlichkeit und Fröhlichkeit der Kinder ist unbeschreiblich! Bei meinem ersten, mit dem Lehrer vereinbarten Besuch stimmte die Klasse ein kleines Begrüßungslied für mich an: „Bem-vindo, amigo Joaquim“! (Jochen können sie nicht aussprechen).

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In der Grundschule: „Bem-vindo amigo Joaquim …“

In der Küche des Haupthauses arbeitete Dona Elaine, obwohl sie eigentlich seit ein paar Jahren pensioniert war. Jedoch wollte der Farmbesitzer, Dr. Ângelo Calmon de Sá, dass sie kochte, wenn er sich, drei bis vier Mal im Jahr, auf der Farm aufhielt. Es schmeckte ihm eben nur, was sie kochte. Also kam sie zum Kochen, wenn Dr. Ângelo ein paar Tage vorher anrief. Dona Elaine weigerte sich aber, mit den modernen Küchengeräten arbeiten, weil sie überzeugt davon war, dass z.B. so ein Stößel viel besser funktioniere.

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Dona Elaine

Brasilianer sind in aller Regel sehr höfliche Menschen, die andere Menschen nicht vor den Kopf stoßen können. Dies geht so weit, dass sie nicht „Nein“ sagen, und auch nur sehr schwer etwas direkt absagen können, d.h., sie tun das dann eben auf ihre Weise. In diesem Zusammenhang erzählte mir Osmundo, dass Dr. Ângelo ihm letztes Jahr verspro-chen hatte, ihm einen Flug nach Paris oder Rom zu spendieren, sobald die Farm eine gewisse Anzahl von soundso viel Tausend Arrobas (1 Arroba = 15 kg) an Kakaobohnen produzieren würde.

Nun vertraute er mir an, dass die Farm in diesem Jahr diese Produktionsmenge ganz si-cher übertreffen werde, er aber überhaupt nicht nach Paris oder Rom fliegen wolle. Vor allem, weil er Angst vor dem Flug habe, aber auch vor der ganzen Reise; und Paris und auch Rom würden ihn auch gar nicht reizen. „Was soll ich denn da“?, fragte er mich ganz ohne Polemik. Und nun traue er sich aber nicht, dies dem „Doutor Ângelo“ zu sagen, „weil er doch immer so von Paris und Rom schwärmt“.


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Ich fragte ihn, was denn ihm so gefallen würde zu unternehmen oder zu sehen, wenn nicht Paris oder Rom. Er meinte, sein Traum wäre es, einmal den Karneval in Rio de Janeiro zu erleben. Also fragte ich ihn, warum er dem „Doutor Ângelo“ zwar nicht direkt absagt, aber ihn in Form eines Gegenvorschlags einfach fragt, ob er nicht alternativ nach Rio zum Karneval fahren könne, vielleicht ja mit dem Bus, da könne der „Doutor“ doch eigentlich nichts dagegen haben.

Die darauf folgende Reaktion von Osmundo gehört zu den Juwelen in meiner kleinen sentimentalen Schatztruhe, die ich für mich seit Jahren pflege. Einen so überraschten und dankbaren Blick von einem gestandenen, hart arbeitenden Menschen habe ich weder vorher noch hinterher je wieder gesehen. Am liebsten hätte er mich umarmt, aber er beließ es bei einem langen, festen Händedruck. Vor allem aber war unsere Beziehung danach eine andere. Seit dieser kleinen Begebenheit war er mir gegenüber noch offener, fast schon familiär.

Nach ein paar Tagen fragte Osmundo mich morgens: „Und, hast Du nun alles gesehen und fotografiert?“ Ich antwortete ihm: „Ich denke schon, dass ich das Wichtigste nun habe, aber ich kenne ja auch noch nicht alles, woher soll ich also wissen, was noch fehlt?“ „Ja klar, aber du kannst doch nicht hier wieder weggehen, ohne alles kennengelernt und fotografiert zu haben!“
Und so setzten wir uns zusammen, erstellten eine Liste der Tätigkeiten, die ich schon „im Kasten“ hatte und fanden so heraus, welche noch fehlten. Dann zogen wir los und er zeigte mir den ganzen Tag lang die noch fehlenden Arbeiten.

An meinem letzten Tag lud mich Dr. Ângelo Calmon de Sá zum Abendessen im Haupt-haus ein, und so kam auch ich noch in den Genuss von Dona Elaines Kochkünsten! Er war sehr freundlich und zuvorkommend, und wir hatten einen schönen, für mich sehr spannenden und lehrreichen Abend. Nach dem Essen fragte er mich, ob ich eine beson-dere Schokolade versuchen möchte. Was für eine Frage! „Na, und ob“!

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Tanz

Er ging aus dem Wohnzimmer und kam mit einer kleinen Plastiktüte zurück. Ohne große Umstände packte er die Schokolade auf ein kleines Holzbrett, Dona Elaine brachte aus der Küche ein angewärmtes Messer zum Zerschneiden der Schokolade. Verschmitzt er-klärte er mir, dass diese kleine Tafel der Rest der Schokolade sei, die aus seinem Edelka-kao beim letzten „Salon du Chocolat“ in Paris hergestellt wurde und die dort den zweiten Preis der Edelschokoladen gewonnen hatte. Eine der herrlichsten Metamorphosen, die ich bisher direkt versuchen durfte! Vielen Dank „Doutor Ângelo“, für alles!
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Jochen Weber lebt seit März 2013 in Mumbai, wo er als freier Fotograf, Journalist und Kursleiter für Fotografie arbeitet. Seine Schwerpunkte sind die Reisefotografie sowie Foto-reportagen. Ab 1983 arbeitete er für einige Jahre als Buchhändler in Stuttgart und Rom sowie auf einer Garnelenfarm in Ecuador, danach als internationaler Vertriebsleiter für die Verlage Klett und Kohlhammer. 2003/04 besuchte er den Fotokurs bei Volker Schöbel an der Freien Fotoschule Stuttgart und startete danach erste eigene Fotoprojekte. 2009 zog er nach São Paulo, was den Beginn seiner Tätigkeit als Fotograf und Journalist bedeutete.

Im April 2015 erscheint sein erstes Buch im dpunkt.verlag:
Reisefotografie erleben. Menschen – Szenen – Geschichten
(ISBN: 978-3-86490-250-5).

Links zu weiteren Dokumentationen:

Zu Besuch beim Kaffee | Zu Besuch beim Tabak | Bhopal – Die zweite Katastrophe | Cago – Auf der Suche nach Freiheit | Im Rausch der Sinne

© Nikon Fotografie-Forum und Jochen Weber. Jedwede Art der Veröffentlichung, auch auszugsweise, bedarf der Genehmigung.

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